Der Chinesische Muntjak fühlt sich nicht nur im Reich der Mitte wohl, sondern auch in Großbritannien. Auf der Insel hat die Ausbreitung der Tiere zu erheblichen Schäden geführt – nicht nur an Autos.

Foto: Peter O’Connor

Belfast/Wien – Er ist klein, hat aber Appetit auf alles Mögliche. Taucht er aus der Deckung auf, kann das zu Unfällen führen: In Großbritannien dürften Zwergmuntjaks jährlich für 15.000 Kollisionen mit Autos verantwortlich sein. Dabei ziehen die aus Asien stammenden Tiere zumeist den Kürzeren: Mit 50 Zentimeter Schulterhöhe sind die Chinesischen Muntjaks (auch Zwergmuntjaks genannt) eine der kleinsten Arten aus der Familie der Hirsche.

Die kleinen Hirsche leben von Natur aus in Asien. Im 19. Jahrhundert waren wenige Einzeltiere von China nach England exportiert und dort in Zoos und Tierschauen gezeigt worden. Im Londoner Zoo vermehrten sich die Tiere. 1901 dann wurden aus einem Park in Bedfordshire Muntjaks in die Freiheit entlassen – die Gründerpopulation in Britanniens freier Wildbahn.

Pro Jahr ein Kilometer

Forscher schätzen die Zahl der Chinesischen Muntjaks im Vereinigten Königreich heute auf 52.000 Exemplare. Zum Vergleich: Die Bestände in China und Taiwan sollen sich auf etwa 118.000 Tiere belaufen. Die Art breitet sich in Großbritannien derzeit jährlich um einen Kilometer nordwärts aus, hat inzwischen die Grenze zu Schottland erreicht und erfolgreich Wales und Englands Südwesten erobert. Die Abschüsse durch Jäger stiegen derweil zwischen 1961 und 2009 um mehr als das Siebzehnfache.

Britische Forscher um Jim Provan (Queen's University Belfast) haben nun im "Journal of Zoology" rekonstruiert, wie es zu dieser Ausbreitung kam und wie groß die Ursprungspopulation in England war. Damit sollte die Frage geklärt werden, ob Hirscharten zur erfolgreichen invasiven Art werden können, wenn nur wenige Einzeltiere die Erstpopulation bilden.

Für ihre Studie entnahmen die Forscher 176 britischen Muntjaks DNA-Proben und analysierten die genetische Distanz zwischen den untersuchten Muntjaks, die verschwindend gering war. Wie die Berechnungen der Forscher ergaben, waren vermutlich nur vier oder fünf Muntjakweibchen die Gründermütter der heutigen Population.

Das wiederum bedeutet, dass selbst kleinste Freilassungsaktionen zu einer unumkehrbaren und kostenträchtigen invasionsartigen Ausbreitung der Spezies führen können. Bisher waren Biologen davon ausgegangen, dass ein hohes Maß an genetischer Vielfalt und eine ganze Reihe von Aussetzungen oder Einwanderungsschüben zwingend nötig seien, damit sich eine eingewanderte oder neu eingeführte Art auf Dauer etablieren kann.

Den Zwergmuntjaks kam bei ihrer Expansion zugute, dass sie sich anders als andere Hirscharten das ganze Jahr über vermehren und schon mit 36 Wochen geschlechtsreif werden. Bereits nach zwei Monaten sind die Kitze entwöhnt. Die Lebenserwartung in freier Wildbahn beträgt bis zu zwölf Jahre. Den aus den Subtropen stammenden Tieren kommt das atlantische Klima sehr entgegen, denn sie brauchen milde Winter und möglichst Wintergetreide, das in Westeuropa großflächig angebaut wird.

Die Ausbreitung der Muntjaks hat auf der Insel längst zu erheblichen Schäden geführt. Dazu zählen nicht nur die zahlreichen Kollisionen mit Autos. Die Muntjaks übertragen zudem, wie manche andere Wildtiere, die Erreger von Rindertuberkulose und Maul- und Klauenseuche. Dazu kommen Ernteschäden bei Bauern und der Rückgang der Bodenvegetation in Wäldern.

Auswirkungen auf Rehe

Mit Rothirsch und Reh ist eine Koexistenz möglich. In Südostengland wurde allerdings bei anderen Untersuchungen festgestellt, dass mit der verstärkten Präsenz von Muntjaks die Zahl, das durchschnittliche Gewicht und die Fruchtbarkeit von Rehen deutlich zurückgingen. Die kleinen Hirsche besetzen zudem ökologische Nischen, die von verwandten Arten bislang gemieden wurden.

Werden die einzelgängerischen, sich meist im Dickicht verbergenden Muntjaks nicht bejagt, erreichen sie Populationsdichten von 20 bis 120 Tieren je Quadratkilometer. Zu ihrer Kost zählen neben Blättern, Trieben, Samen und Rinden auch Blumen, Früchte und die Gelege bodenbrütender Vögel. In Großbritannien sollen Muntjaks für den lokalen Rückgang von Nachtigallen, Drosseln und Gartengrasmücken verantwortlich sein.

Das Muntjakproblem, so Jim Provan, drohe auch Kontinentaleuropa. In den Niederlanden gab es Ende der 1990er-Jahre erste Sichtungen in freier Wildbahn, jeweils in Gegenden in der Provinz Gelderland im zentralen Osten des Landes. Von dort ging es südwärts. In der Provinz Nordbrabant an der Grenze zu Belgien hat sich inzwischen eine Population von etwa 50 bis 100 Tieren etabliert. Die ersten Tiere dort waren aus Parks entwichen oder mutwillig freigelassen worden. (Kai Althoetmar, 13.7.2016)