STANDARD: Alle sind erschüttert über die Tat von Nizza. Wie erklären Sie sich diesen Hass?

Schönborn: Die Kernfrage ist für mich: Warum wird jemand zum Terroristen? Wie kommt es, dass sich jemand in einen Lastwagen setzt und, alle inneren Grenzen überschreitend, einfach in die Menge fährt und Männer, Frauen und Kinder tötet? Woher kommt diese schwere Störung des Menschseins? Religiöser Fanatismus kann sicher dazu einen Anstoß geben, aber er kann das nicht vollständig erklären. Da gibt es eine Komponente des Wahnsinns.

STANDARD: Was ist die angemessene Antwort auf solche Attentate?

Schönborn: Es gibt die Erfahrung, die sagt: Niemand wird zum Täter, der nicht vorher zum Opfer geworden ist. Darum stimmt es auch, dass unter all jenen Sicherheitsmaßnahmen, die einer Gesellschaft zur Terrorverhütung zur Verfügung stehen, die Liebe und die Güte, Barmherzigkeit und Vergebung, die wichtigsten sind. Damit nicht mehr Menschen zu Tätern werden.

STANDARD: Durch die Terroranschläge wachsen in Europa stetig die Vorbehalte gegenüber Muslimen. Wie kann man da gegensteuern?

Schönborn: Das sind komplexe Fragen. Der Terror hat zurzeit ein islamisches Etikett – ob zu Recht oder nicht. Jedenfalls sind es nicht Christen, Ex-Christen oder Menschen anderer Religionen. Es sind Muslime. Das ist ein großes Problem für den Islam, mit dem er sich auseinandersetzen muss. Was wir andererseits dabei nicht vergessen dürfen, ist, dass die größte Zahl an Opfern des Terrors Muslime sind. Aber sicher erwarten viele zu Recht klarere Stellungnahmen von islamischen Autoritäten.

STANDARD: Erwarten Sie sich auch eine klarere Stellungnahme?

Schönborn: Ja. Mit der Frage, inwieweit dieser Terrorismus innerislamische Wurzeln hat, muss man aber vorsichtig umgehen. Wir haben in der Bibel auch sehr viel grausame Stellen, die freilich christlich interpretiert anders gelesen werden müssen. Auch im Christentum finden sich Wurzeln der Gewalt. Es ist ja dem Christentum nicht zu Unrecht vorgeworfen worden, dass es auch seine schlimme Gewaltgeschichte hat.

Toleranz in der Chefetage: Kardinal Schönborn will keinem Bischof "einen Maulkorb verpassen".
Foto: Hendrich

STANDARD: Also anders gesagt: Das Christentum hat das Gewaltkapitel aufgearbeitet und distanziert sich, und das fehlt beim Islam noch?

Schönborn: Ja, das ist so. Aber ehrlicherweise muss ich anführen, dass die christliche Distanzierung vom Antisemitismus, von den Gewaltexzessen der Religionskriege etc. noch nicht so alt ist. Wir sind auch selbst durch einen Lernprozess gegangen. Ohne den Schrecken des Holocaust hätte es wahrscheinlich nicht das klare Bekenntnis gegen den Antisemitismus gegeben.

STANDARD: Papst Franziskus hat vor der "Globalisierung der Gleichgültigkeit" gewarnt. Wenn wir einen Blick auf die Situation der Flüchtlinge im Mittelmeer werfen, sind wir da angekommen?

Schönborn: Da muss ich differenzieren. Das hat auch damit zu tun, dass wir mit Meldungen von Katastrophen auf der ganzen Welt überflutet werden. Das war früher ganz anders. Heute erfährt man: 300 Tote hier, 50 dort. Daraus folgt unweigerlich, dass Schreckensnachrichten nicht mit der gleichen Intensität wahrgenommen werden, wie wenn zu Hause ein Kind überfahren wird. Aber das ist noch nicht Gleichgültigkeit, das ist Überforderung durch die Flut an Information. Das Heilmittel gegen diese angesprochene Gleichgültigkeit ist die Aufmerksamkeit, zu schauen, was vor meiner Haustüre geschieht. Dass nicht jemand drei Wochen unbeachtet tot in der Nachbarwohnung liegt.

STANDARD: In Österreich gibt es nach einer Welle der Hilfsbereitschaft auch viel Hass und Ablehnung. Was ist da passiert?

Schönborn: Passiert ist, dass wir von einer sehr prosperierenden Gesellschaft Schritt für Schritt in eine Gesellschaft hineingehen, in der es vielen Menschen deutlich weniger gut geht. Das ist noch nicht dramatisch, aber doch eindeutig spürbar. Heute kann ein Alleinverdienender unmöglich seine Frau und drei Kinder ernähren und für ein Haus ansparen – außer Erben und Gutverdiener. Das war vor, sagen wir, 30 Jahren noch möglich. Dieser Verlust an Realwert schafft natürlich Unsicherheit in der Gesellschaft, schafft Zukunftsangst. Die ist gerade bei der älteren Generation besonders ausgeprägt, weil diese die aufsteigende Seite erlebt haben. Nehmen Sie mich: Ich bin aufgewachsen ohne Zentralheizung, ohne Kühlschrank, Klo am Gang etc. Ich habe erlebt, dass es jedes Jahr ein bisschen besser gegangen ist. Heute wächst eine Generation heran, deren Zukunftsaussichten deutlich schlechter sind. Da sind Spannungen unausweichlich.

STANDARD: Inwieweit greift das die Politik auf?

Schönborn: Ich muss mich da selbst ein wenig korrigieren: Ich habe in manchen Stellungnahmen an die früheren Flüchtlingsströme etwa aus Ungarn oder der damaligen Tschechoslowakei erinnert. Es gibt aber einen Unterschied: Diese Flüchtlinge waren alle Europäer, hatten ungefähr dieselbe Kultur, viele dieselbe Religion. Selbst die Integration der Bosnier, die vielfach Muslime waren, ist durch die kulturelle Gemeinsamkeit schneller gegangen. Jetzt haben wir es zu tun mit einer Zuwanderung aus dem Nahen Osten, aus Afrika, und da ist die kulturelle und religiöse Differenz sicher ein Faktor, der Sorge macht.

STANDARD:Zur katholischen Kirche: Nach schwierigen Jahren mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle und dem Pfarreraufstand der Ungehorsamen ist es derzeit in der katholischen Kirche in Österreich auffallend ruhig. Genießen Sie die heilige Harmonie?

Schönborn: Von sehr viel Ruhe kann ich nicht berichten. Wir haben intensive innerkirchliche Debatten zurzeit – weniger in Österreich als international. Es gibt aktuell eine doch sehr starke, signifikante innerkirchliche Opposition zu Papst Franziskus, die sich aktiv und lautstark engagiert. Während Papst Franziskus eine große Akzeptanz in Milieus hat, die sonst mit der Kirche nicht so viel zu tun haben, gibt es innerkirchlich eine Polarisierung.

STANDARD: Es gibt also zwei Lager?

Schönborn: Es artikuliert sich nicht in Form von Lagern. Die deutliche Mehrheit ist mit dem Papst einverstanden und froh über sein Tun. Aber es gibt auch viele Stimmen, die sehr besorgt sind. Vergangene Woche hatte ich ein Gespräch mit Papst Franziskus. Unter anderem hat er etwas gesagt, was mich sehr beeindruckt hat: Wir müssen versuchen, die innerkirchlichen Opponenten liebevoll zu gewinnen.

"Es gibt aktuell eine doch sehr starke, signifikante innerkirchliche Opposition zu Papst Franziskus", sagt Kardinal Schönborn.
Foto: Hendrich

STANDARD: Wie sollen die Gegner des Papstes gewonnen werden? Sind Zusammenkünfte geplant?

Schönborn: Wir stehen mitten in einer großen Debatte innerhalb der Kirche – und es ist gut, dass sie geführt wird. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass es einfach die Konservativen und die Liberalen gibt. Damit hat man sich irgendwie abgefunden. Aber das Evangelium ist weder konservativ noch liberal, es ist herausfordernd.

STANDARD: Aber diese schwierige Lage bremst doch den päpstlichen Reformwillen, oder?

Schönborn: Ich glaube, dass schon viel geschehen ist. Papst Franziskus setzt auf Prozesse. Es werden Dinge in Gang gesetzt, und es kommt Bewegung hinein. Das hat er ja mit der Familiensynode über zwei Jahre hinweg gemacht. Das ist ein Weg, und da muss viel diskutiert werden. Die Veränderung geschieht nicht an einem Endpunkt, sondern auf dem Weg. Ein einfaches Beispiel: In der Synode 2014 waren die Reden noch unglaublich abstrakt. Ein Jahr später wurde auf einmal von der Realität gesprochen, auch Bischöfe haben von ihrer Familiensituation erzählt. Und siehe da, man hat nicht einfach nur abstrakt theoretisiert. In gewisser Weise ist der Weg das Ziel, weil er auf ein Ziel zugeht.

STANDARD: Auch in einem anderen Bereich fürchten Sie eine Polarisierung: im laufenden Präsidentschaftswahlkampf.

Schönborn: Ich habe appelliert, dass man ein Fairnessabkommen macht. Es gab einen monatelangen Wahlkampf, das braucht doch nicht alles wiederholt werden.

STANDARD: Sie würden dann quasi als Richter fungieren – gab es dazu schon Gespräche?

Schönborn: Nein. Aber FPÖ-Kandidat Norbert Hofer hat meine Stellungnahme aufgegriffen. Und es soll Gespräche zwischen den Wahlkampfleitern geben. Ich hoffe, dass das stattfindet.

STANDARD: Zusätzlich polarisiert hat in diesem Wahlkampf ausgerechnet ein Kirchenmann: Der Salzburger Weihbischof Andreas Laun hat unter anderem Wähler von Alexander Van der Bellen als "gehirngewaschen" abgetan ...

Schönborn: ... bitte, für das "gehirngewaschen" hat er sich entschuldigt. Es hat auch ein sehr ernstes Gespräch mit dem für ihn zuständigen Erzbischof von Salzburg gegeben. Meine Stellungnahme war ja kurz und klar: Seit 50 Jahren ist es nicht üblich, dass Bischöfe eine Wahlempfehlung geben – und wir halten uns daran.

STANDARD: Genügt das?

Schönborn: Wir sind eine freie Gemeinschaft. Ich kann einem Bischof keinen Maulkorb erlassen. Ich bin nicht sein Vorgesetzter.

STANDARD: Weiß Rom davon? Dort sitzt ja der Vorgesetzte.

Schönborn: Ich denke, es wird in Rom wahrgenommen. Aber, bitte: Man soll nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Jeder sagt einmal Dinge, wo man etwas zurückziehen könnte. Ich durfte beispielsweise schon mit Aussagen, die mir rausgerutscht sind, für Manfred-Deix-Karikaturen herhalten. Einmal habe ich gesagt: "Es kann ja mal passieren." Mehr habe ich nicht gebraucht: Deix hat mit diesem Satz dann alle möglichen Situationen ausgeschmückt. (Peter Mayr, Markus Rohrhofer, 17.7.2016)