Der "Islamische Staat" hat den Massenmörder von Nizza als einen seiner "Soldaten" identifiziert: Die französischen Behörden versuchen nun herauszufinden, ob es sich dabei um eine posthume Inanspruchnahme handelt oder ob der Tunesier nicht doch bereits Kontakte zu Personen hatte, die sich eindeutig zum IS bekannten. Die islamistische "Radikalisierung" sei sehr schnell erfolgt, sagte der französische Premier Manuel Valls in einem Interview. Dahinter steckt die Annahme, dass es doch so etwas wie eine pseudoreligiöse Motivation geben müsse, um so eine Tat durchzuführen.

Diese Annahme kann man aber auch hinterfragen. Das Profil des Attentäters von Nizza, der mit dem Islam nie etwas zu tun hatte, illustriert sehr gut, was der IS, wenn er im Westen zuschlägt, vor allem ist: die absolute Verneinung – und Zerstörung – all dessen, was in unseren Gesellschaften als "Leben" gilt. Die Ideologie des "Islamischen Staats" ist die einzige, die das im Angebot hat. Dafür, dass man seine Wahnsinnstaten dem "Islamischen Staat" zur Verfügung stellt, erhält man einen Platz in der Geschichte, in die man sonst nur als einsamer verrückter Amokläufer eingegangen wäre.

Es ist eher nicht anzunehmen, dass Täter wie jener von Nizza bei ihren Aktionen an die Utopie des IS denken, die er beginnend in Syrien und dem Irak verwirklichen wollte, an das absurde "Kalifat" mit einem Straßenbild, das es in der islamischen Geschichte natürlich so nie gegeben hat. Tätern wie jenem von Nizza ist wohl auch das politische Projekt des IS egal, der die "künstlichen" Staatsgrenzen im Nahen Osten aufheben will, um stattdessen die des Islam einzuführen, der natürlich früher oder später die ganze Welt umfassen soll. Der Attentäter von Nizza wollte, genau wie jener von Orlando, töten, und sonst nichts, und sie haben im IS ein Vehikel gefunden, das ihre Tat zu einem politischen Akt erhöhen soll.

All das zu wissen und zu bedenken hilft jedoch wenig – im Gegenteil, der IS macht jene in unserer Gesellschaft, deren Probleme sich in Aggression verwandeln, noch gefährlicher. Es ist auch unbestreitbar, dass der Weg zum IS einer Person, die ihre eigene islamisch geprägte Kultur verloren und durch nichts ersetzt hat – wie so viele Nordafrikaner in Frankreich -, wohl noch kürzer ist als jener anderer Personen. Aber diese Täter sind dennoch ein Phänomen und Produkt unserer eigenen Gesellschaften, nicht pauschal "des Islam".

Es ist aber genauso gut ein naives Unterfangen, bei einem Täter, bei dem die Hinweise auf einen direkten Kontakt zum IS fehlen, den Konnex prinzipiell negieren zu wollen. Wenn es andere Gründe und Hintergründe gegeben hätte, wüsste man sie bereits. So eine Tat ist gleichzeitig immer auch eine Botschaft: Und wenn ein in Frankreich gescheiterter Tunesier am Abend des französischen Nationalfeiertags einen Lastwagen in die feiernde Menge fährt, dann ist diese Botschaft ziemlich eindeutig. (Gudrun Harrer, 17.7.2016)