Die Brücke beginnt auf einmal stärker zu schwanken, ein Autobus fährt an Friedrich Fürst vorbei. Der 19-jährige Niederösterreicher sieht, wie der Bus auf einmal mitten in der Fahrbahn verschwindet. "Ich habe geglaubt, ich bin selbst schwindelig. Die Brücke hat Wellen geschlagen, wie wenn eine Schnur reißt und wegschnalzt", sagt Fürst zum STANDARD.

Es ist gegen 4.45 Uhr an einem frühen Sonntagmorgen, dem 1. August 1976, als die Reichsbrücke, eine der bekanntesten und altehrwürdigsten Brücken Wiens, plötzlich einstürzt. Vier Fahrzeuge – darunter Fürsts VW Käfer – befinden sich zu diesem Zeitpunkt auf der Fahrbahn zwischen zweitem und 22. Bezirk. Die Wucht des Einsturzes der Brücke ist so stark, dass die Seismografen auf der Wiener Hohen Warte wie bei einem Erdbeben ausschlagen. Ein Auto und der Gelenkbus der Wiener Linien sinken in die Tiefe. Der 22-jährige Fahrer einer Mietwagenfirma stirbt.

Der Einsturz ist eine Zäsur im beschaulichen Sommer 1976. Am gleichen Tag, wenige Stunden später, wird Niki Lauda seinen spektakulären Unfall am Nürburgring haben, den er nur knapp überlebt. Die österreichische Nation erlebt zwei Erschütterungen an ein und demselben Tag.

Erste Meldung der Austria Presse Agentur am 1. August.

Der passagierlose Bus der Linie 26A verschwindet nicht komplett, sondern bleibt auf den Trümmern der Brücke liegen, vom Wasser umspült. Der Busfahrer rettet sich mit leichten Verletzungen aufs Busdach. Der Bus bleibt, nach der Bergung einige Tage später, bis 1989 im Fahrbetrieb.

Rennen, ohne nachzudenken

Fürst und seine zwei Freunde, die mit ihm unterwegs sind, rennen. Brückenteile fallen herunter, die Oberleitungen der Straßenbahn reißen, die schweren Ketten der Brücke stürzen auf die Fahrbahn. "Es war schon ein kleines Inferno", sagt Fürst. "Man rennt, man tut, man hat nicht die Zeit nachzudenken." Fürst fürchtet, dass die Kette ihn erdrückt. "Ich stand erstarrt da und wartete auf den Tod. Die stromaufwärts fallenden Steher zogen die Tragkette im letzten Moment in die andere Richtung – meine Rettung."

Die Reichsbrücke war und ist nicht irgendeine Brücke. 1876 wurde sie als Kronprinz-Rudolf-Brücke eröffnet, die den zweiten Wiener Gemeindebezirk mit Kaisermühlen und Kagran, die damals noch nicht Teil von Wien waren, verband. Nach dem Zerfall der Monarchie 1919 erhielt die Brücke den Namen Reichsbrücke. 1930 wurden Schäden entdeckt, das Rote Wien überlegte eine Sanierung.

Seitenweise Berichte: Die "Arbeiterzeitung" berichtete damals auch über Friedrich Fürst.

Stattdessen verfügte der damalige austrofaschistische Kanzler Engelbert Dollfuß 1933 den Neubau. Die zweite Reichsbrücke wurde nach dem Vorbild der ersten als Kettenbrücke errichtet – und war auch politisches Statement: Wie andere Infrastrukturprojekte dieser Zeit, zum Beispiel die Höhenstraße oder die Großglockner Hochalpenstraße, diente sie als prestigeträchtiges Projekt des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes. Just zwei Wochen nach den Februarkämpfen im Jahr 1934 wurde mit dem Bau begonnen. Zur propagandistisch aufgeladenen Einweihung 1937 wurde eigens ein "Reichsbrückenlied" geschrieben: "Heil der Arbeit, die verbindet / Kluft und Spaltung überwindet / Heil dem Werk, Heil unserm Land!"

Der Zweite Weltkrieg machte die Brücke schließlich zu einer Ikone der Unzerstörbarkeit: Sie hatte als einzige Brücke in Wien die letzten Kriegstage beinahe unbeschadet überstanden. Sie war, im Gegensatz zu anderen Brücken, von der Zerstörung durch Bombentreffer oder Sprengung durch abziehende NS-Truppen nicht betroffen. Dieser Mythos setzte sich im Nachkriegsösterreich fort.

Doppeltes Glück

Die Gruppe um Friedrich Fürst hat in der Nacht des 1. August 1976 zweimal Glück. Stunden zuvor hat sich Fürsts VW Käfer beim Praterstern überschlagen – ohne gröbere Schäden für Auto wie Insassen. Mithilfe eines Polizisten wurde der Käfer wieder aufgestellt, lediglich ein Reifen war platt. Bis zur nächsten Tankstelle auf der anderen Donauseite versuchte man es trotzdem. Doch der Volkswagen kommt nur bis zur Reichsbrücke, dort steht man schließlich ohne Ersatzreifen und Wagenheber da. Man muss auf den ÖAMTC warten. Es gelingt dann doch, die Panne mithilfe jenes jungen Manns zu beheben, der kurze Zeit später beim Brückenunglück stirbt. Unmittelbar danach sackt die Brücke ab.

Einer der ÖAMTC-Pannenhelfer schilderte seine Eindrücke damals der Austria Presse Agentur: "Die ganze Brücke hat es plötzlich aufgehoben und dann ist sie zusammengebrochen."

Die Situation an der Reichsbrücke nach dem Einsturz ist chaotisch. Nach rund 20 Minuten sind die Einsatzkräfte vor Ort. Wasser überflutet den Handelskai, Telefonleitungen über die Donau sind unterbrochen, Gas strömt aus Leitungen. Friedrich Fürsts junger Helfer, der Mietwagenchauffeur, wird erst nach Tagen tot aufgefunden.

Vor vierzig Jahren stürzte die alte Reichsbrücke ein. Die neue fügt sich dem Stadtbild.
Foto: APA/GÜNTER R. ARTINGER

Gut eineinhalb Stunden nach dem Einsturz tagt um 6.30 Uhr in der Früh der erste Krisenstab im Rathaus unter SPÖ-Bürgermeister Leopold Gratz. Neben der Ursachenfindung gilt es rasch eine Straßenbahn- wie Autoverbindung über die Donau zu errichten.

Die ersten Straßenbahnen konnten Mitte Oktober 1976 die Donau passieren, die Ersatzbrücke für Autos war im Dezember fertig. Politische Verantwortung übernahm der damalige Planungsstadtrat Fritz Hofmann (SPÖ): Er war nach dem Unglück noch tagelang auf Urlaub in der Schweiz geblieben. Nach seiner Rückkehr, fünf Tage nach dem Einsturz, trat Hofmann gleich ganz zurück.

Paul Randig

Am Anfang war sogar über einen Anschlag gemutmaßt worden: "Die Geräusche bei dem Einsturz hätten, so Anrainer, auf einen derartigen Anschlag schließen lassen", heißt es in einer Nachrichtenmeldung. Die übrigen Donaubrücken wurden penibel kontrolliert.

Schuld an der Katastrophe waren aber technische Mängel. Eine der Hauptursachen war ein Brückenpfeiler, der in der Zwischenkriegszeit mit minderwertigem Beton errichtet worden war.

Bruck'n schau'n

Die Wienerinnen und Wiener strömten zu den Donauufern. War die intakte Reichsbrücke ein Wahrzeichen Wiens, so wurde die eingestürzte Brücke eine Pilgerstätte für Schaulustige und Devotionaliensammler. Schon drei Stunden nach dem Einsturz hatten sich hunderte Menschen eingefunden. In ihrem "Reichsbrückenmarsch" sangen die Liedermacher Manfred Kratochwil und Rudi Napravnik damals von dem Phänomen: "Heute gemma Bruck'n schaun / schaut's wie sich die Leute stau'n".

Fürst sah sich auch auf dem Weg zur Arbeit in der Schnellbahn mit seiner neuen Bekanntheit konfrontiert: "Ich hab die Zeitung relativ hoch gehalten, damit mich keiner erkennt. Es wollte jeder die Geschichte hören."

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Um die Verbindung der beiden Donauseiten wiederherzustellen, beschloss man einen raschen Neubau der Reichsbrücke. Im Jänner 1978 wurde begonnen, im November 1980 wurde die neue, nun dritte Reichsbrücke eingeweiht. Die U-Bahn, die unterhalb der Fahrbahn verläuft, nahm ihren Betrieb in Richtung Kagran im September 1982 auf. Die Straßenbahn-Ersatzbrücke wurde im März 1983 abmontiert. Beim Neubau wählte man eine Flachbrücke. Waren die beiden Vorgängerbauwerke noch Wahrzeichen gewesen, fügt sich die neue als nüchterner Zweckbau ins Stadtbild.

Der Einsturz der Reichsbrücke hat sich tief in das Gedächtnis der Zweiten Republik eingebrannt, wie der Historiker Peter Payer schreibt: "Österreich und Wien hatten ein zentrales Symbol ihrer Identität verloren."

Überlebender Fürst sagt: "Dass etwas, das so unverwüstlich ausschaut, sich plötzlich so verbiegen kann, das hätte ich mir vorher nicht vorstellen können. Für mich war die Reichsbrücke etwas Unzerstörbares, das war sie auch für viele andere." (Sebastian Pumberger, 31.7.2016)