Türkische Staatsbürger in Österreich

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Die Demonstrationen der Erdogan-Anhänger nach dem Putschversuch in der Türkei, hier vor dem Parlament in Wien, sorgten auch in der heimischen Politik für Unbehagen.

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In Österreich leben etwa 270.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, 116.000 davon sind türkische Staatsbürger. Von diesen wählten etwa 69 Prozent bei den Parlamentswahlen in der Türkei 2015 die regierende AKP. 6,7 wählten die rechtsextreme MHP (Türkische Nationale Bewegungspartei oder Milliyetçi Hareket Partisi). Laut der türkischen Botschaft lag die Wahlbeteiligung bei 44 Prozent. Nach Pro-Erdogan-Demos in Österreich fragen sich viele Österreicher: Wie national und religiös sind Türken hierorts eigentlich?

50 Jahre ignoriert

Er empfinde "größte Verwunderung, dass man sich erst jetzt, nach 50 Jahren, die Leute anschaut, die bei uns leben", meint dazu der Wiener Soziologe Kenan Güngör. Was die Religiosität angeht, so erinnere er daran, dass auch für Communitys der Polen, Kroaten oder Bosnier in Österreich gilt, dass sie religiöser sind als Österreicher.

Die Türken habe man ignoriert, "solange sie brav gearbeitet und nicht aufgemuckt haben", so Güngör – und von Wahlen waren sie lange ausgeschlossen. Kein Wunder also, dass man sich auch ihr Wahlverhalten nicht erklären kann. "Die AKP ist eine Massenpartei, die größte Volkspartei in der Geschichte der Türkei", sagt Güngör. "In ihr haben liberale, nationale, religiöse und sogar fundamentalistische Strömungen Platz. Ihre Wählerschaft ist keine homogene Gruppe, und in der Türkei wählt man weniger Ideologie als charismatische Führerschaft."

In Österreich häufen sich jedenfalls nicht erst seit dem Putschversuch in der Türkei handfeste Konflikte, auch ideologische zwischen jungen rechten Türken und jungen linken Kurden. Unter dem Dachverband der rechten Vereine, der Österreichischen Türkischen Föderation (Avusturya Türk Federasyon, ATF), versammeln sich rund 25 Vereine. In ihrem Umfeld gibt es auch solche, die offen mit den rechtsextremen Grauen Wölfen sympathisieren.

ATF und UETD, der Dachverband der AKP-nahen Vereine, nähern sich immer mehr an. Ein gemeinsamer Feind sind immer wieder die Kurden, die von AKP-Anhängern gerne allgemein als PKK-Terroristen verunglimpft werden. Dabei war die AKP noch vor fünf Jahren an der Öffnung in Richtung Kurden beteiligt. "Schon früher gab es Drohungen gegen Kurden, erzählt Mevlüt Kücükyasar, der bis vor kurzem im Vorstand von Feykom, dem Rat der Kurdischen Gesellschaft in Österreich, saß.

Angriffe auf Kurden

In letzter Zeit wurde es aber schlimmer, erzählt Kücükyasar, der selbst bei kurdischen Kundgebungen dabei war, die von Türken angegriffen wurden. Man werde nun auch von der Polizei geschützt: "Aber es ist kein gutes Bild, wenn 200 Kurden von 40 Polizisten begleitet werden müssen, die Faschisten versuchen damit, uns zu kriminalisieren", sagt Kücükyasar und meint mit Faschisten rechtsextreme türkische Vereine. Neben den Sympathisanten der Grauen Wölfe tritt nun auch die Streetgang Osmanen Germania auf. Mitte Juli kam es zum Angriff auf ein kurdisches Restaurant in Wien, am letzten Wochenende sollen junge rechtsextreme Türken das Vereinslokal der ATIGF (Föderation der ArbeiterInnen und Jugendlichen aus der Türkei und Österreich) in Wien gestürmt haben. In Linz wurde eine kurdische Demo angegriffen und eine Frau verletzt.

In Graz geht es da gemütlicher zu. Ali Özbas vom Verein Jukus betont, dass sein Verein für Jugend, Kultur und Sport für alle offen steht. "In Graz sind 90 Prozent der Türken Kurden", schätzt Özbas, "und davon kommen 60 Prozent aus Konya." Unter den Grazer Kurden gebe es auch Erdogan-Anhänger, so Özbas. Doch hier seien alle "irgendwie zusammengeschmolzen in den sozialen Netzwerken von Graz. Man sitzt in denselben Cafés, spielt Karten und debattiert". Ein Erstarken religiöser Tendenzen beobachtete er "nur in den sozialen Netzwerken und bei Jungen, die hier geboren wurden."

Angst bei Aleviten

Von "zunehmender Nervosität" in der alevitischen Glaubensgemeinschaft erzählt Riza Sari, einer von deren Sprechern. Seit dem Putschversuch in der Türkei sei "der Angstlevel eindeutig gestiegen". Die Vorstandsmitglieder der Glaubensgemeinschaft hätten sich im Außenministerium zuletzt sogar eine Kontaktnummer für den Fall geben lassen, dass sie bei Türkei-Besuchen festgenommen oder drangsaliert würden.

Auch habe "die Gehässigkeit" unter türkischen Einwanderern zugenommen. Fragen wie "Bist du AKP-Anhänger?" oder "Bist du Alevit?" hätten vor wenigen Jahren wenig Emotionen hervorgerufen. Nun würden sie vielfach zu "Streit, ja Kontaktabbrüchen" führen. Und bis hinein in die alevitischen Vereine und Cem-Gebetshäuser greife eine "Furcht vor AKP-Spitzeln" um sich.

Seit 2013 ist die alevitische Glaubensgemeinschaft, Alevi, in Österreich eine staatlich anerkannte Religion, wobei es auch außerhalb von Alevi alevitische Gruppen gibt. Aleviten praktizieren eine liberale Auslegung des Koran. Frauen und Männer gelten als gleichwertig. Laut Sari sind 25 bis 30 Prozent der türkischen Einwanderer in Österreich Aleviten.

Unbekannt ist, wie viele ursprünglich muslimische türkische Einwanderer sich von der Religion distanziert haben. Die Obfrau der deutschen Exmuslime, Exiliranerin Mina Ahadi, geht im Standard-Gespräch davon aus, "dass rund 40 Prozent der türkischen Einwanderer in Deutschland keinen religiösen Bezug mehr haben". Hier sei es wohl ähnlich.
(Irene Brickner, Colette M. Schmidt, 2.8.2016)