Wien – Trenchcoat, weiße Bluse, schwarze Sonnenbrille, blondes, kurzes Haar. Als Julieta (Emma Suárez) auf der Straße eine Freundin trifft, sieht sie nicht zufällig wie eine der kühlen Damen aus einem Alfred-Hitchcock-Film aus. Bei der Begegnung erfährt sie, erstmals seit vielen Jahren, dass ihre Tochter lebt, ja inzwischen selbst Kinder hat. Die Nachricht erschüttert sie so sehr, dass sie aus ihrer Beziehung, aus ihrem mühselig reparierten Leben ausschert. Sie mietet sich in eine kleine Wohnung ein, lässt diese aber bis auf wenige Dinge unmöbliert. Dort, wo alles weiß und leer ist, holt sie die Erinnerung an ihr früheres Leben als Mutter nur umso vehementer ein.

Rückblende auf ein Frauenleben, in dem eine Leerstelle bestimmend bleibt: die jüngere Julieta (Adriana Ugarte) in Pedro Almodóvars Melodram.
Foto: Tobis

Mit Julieta, der drei Erzählungen der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro lose ineinanderfaltet, kehrt Pedro Almodóvar wieder zu jenen Geschichten um Frauenschicksale zurück, für die er als feinfühliger Experte gilt. Nach dem schrillen Thriller Die Haut, in der ich wohne und der düsenbetriebenen Boulevardkomödie Fliegende Liebende legt Spaniens bekanntester Regisseur ein konzentriertes, für seine Verhältnisse zurückgenommenes Drama vor, das von lange nachwirkenden Einschlägen erzählt. Im Mittelpunkt stehen unsteuerbare Ereignisse und wie leicht man aus diesen die falschen Schlüsse zieht.

Die Form, die Almodóvar dafür wählt, ist verschlungen wie die Erinnerung selbst. Ein Hauch von einem Mysterium liegt über dem Verschwinden von Julietas Tochter Antía, die sich trotz enger Bindung nach einer Ferienklausur von ihr trennt; hart und unabänderlich, ohne Kontaktmöglichkeit, wie es scheint. Weshalb es zu diesem Bruch kommt, ist eines der Motive, die Almodóvar wie bei einem Krimi lang in der Schwebe hält. Er spielt jedoch nur mit der Formensprache des Thrillers, samt eleganten Anleihen bei seinem Vorbild Hitchcock. Es geht zwar auch um Schuld, aber um jene schwer nachweisbare, etwas unterlassen, zu wenig hartnäckig verfolgt zu haben.

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Eine der Urszenen spielt in einem Zug, der durch Julietas früheres Leben fährt (in diesem Alter wird sie noch, schön altmodisch, von einer anderen Darstellerin, Adriana Ugarte, verkörpert). Ein Mann tritt an die Alleinreisende heran, sie weist ihn ab und trifft kurz darauf im Zugrestaurant in Xoan (Daniel Grao) denjenigen, mit dem sie ihr Kind Antía zeugen wird. Es ist eine magische Szene, die Almodóvar bewusst nahe am Traum inszeniert. Tod und Leben treffen hier eng aufeinander, denn der Fremde, der Ansprache suchte, stürzt sich in den Tod.

Solche Abfolgen, die weniger auf das Betreiben von Figuren als auf die Windungen des Daseins zurückgehen, findet man in Julieta öfters. Julieta nimmt etwa den Platz von Xoans verstorbener Ehefrau in seinem Haus am Meer in Galicien ein und wird dafür von der Haushälterin Marian (großartig: Rossy de Palma) mit schiefen Blicken durchbohrt. Wie eine Frau eine andere ersetzt und wie viel Raum für Spekulationen im Blick eines Dritten darauf bleibt, ist eine der zentralen Konstellationen des Films.

Wille des Erzählers

Nicht immer kann die Art und Weise, wie Almodóvar Szenen aneinanderlötet, das dafür notwendige dramaturgische Handwerk vergessen machen. Manchmal scheint durch die melodramatischen Anbindungen der Wille des Erzählers zu stark durch. Stilistisch, in der ausgetüftelten Farbdramaturgie beispielsweise, gibt der Film umso mehr her. Auch der bald sanft wogende, bald sublim nervöse Score von Almodóvars Langzeitkomponist Alberto Iglesias trägt zu nuancierter Dramatik bei.

Dass Almodóvar diese wohldosierte Atmosphäre keinem allzu überraschenden Ende opfert, ist ihm eigentlich hoch anzurechnen. Dennoch bleibt ein leichtes Gefühl der Enttäuschung über die Motive von Antías Verhalten und den Schmerz Julietas zurück. So greifbar die Mutter wird in ihrer Unfähigkeit, eine Lücke zu füllen, so unscharf bleiben die Konturen der Tochter. (Dominik Kamalzadeh, 4.8.2016)