Mit 17 Jahren reiste Nile Green zum ersten Mal in ein islamisches Land – und seither jedes Jahr. Als Historiker beschäftigt er sich auch wissenschaftlich mit der Begegnung zwischen dem Islam und dem Westen.

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Wien – Der Austausch von islamischen und europäischen Gelehrten in der Moderne ist eines der Forschungsfelder von Nile Green, Historiker an der University of California in Los Angeles. Diese Woche ist er auf Einladung des Instituts für Iranistik der Akademie der Wissenschaften anlässlich einer Konferenz zur Heilkunst im Iran der Kadscharen zu Gast in Wien.

STANDARD: In Ihrem Buch "The Love of Strangers" erzählen Sie die Geschichte einer Gruppe persischer Studenten, die 1815 zu einer Studienreise nach London aufbrachen – was fasziniert Sie daran?

Green: Es geht dabei um den Anfang der Begegnung des Islam mit Europa im modernen Zeitalter. Ich habe mit dem Buch versucht, eine Historiografie der Xenophilie – also des Gegenteils der Xenophobie – zu zeichnen und eine neue Geschichte der Begegnung des Islam mit Europa aufzuzeigen. Diese wird oft top-down, ausgehend von den Nationalstaaten, erzählt. Mich hat aber interessiert, wie sich Islam und Europa bottom-up, also von Individuum zu Individuum begegnet sind. Das Ziel dieser sechs Studenten war es, die europäische Wissenschaft zu studieren. Die Geschichte der islamischen Europhilie würde ich gerne stärker bekannt machen.

STANDARD: Wie kam es dazu, dass Sie sich für diesen Forschungsgegenstand entschieden haben?

Green: Das ist vor allem biografisch bedingt und weniger rein akademisch. Ich habe begonnen, in islamische Länder zu reisen, als ich 17 war – das war vor 25 Jahren, und das tue ich seither jedes Jahr.

STANDARD: Wie stehen Sie zu den Problemen islamischer Länder wie dem zunehmenden Islamismus?

Green: Ich habe Islamismus vor Ort erlebt. 1998 habe ich im Jemen eine Tour geleitet, unsere Partnergruppe, die fünf Minuten vor uns war, wurde von Al-Kaida gekidnappt. Meine Frau ist aus Afghanistan, ich kenne die Länder der arabischen Welt und ihre Probleme wirklich gut und will sie nicht verstecken. Mit meiner Arbeit will ich aber auf Folgendes hinweisen: Heute besteht die Tendenz, dass die salafistische Ausprägung unser Bild des Islam im Westen prägt, aber den progressiven, liberalen, säkularen Islam und die Europhilie vieler Muslime nehmen wir kaum wahr.

STANDARD: Um das Wechselspiel verschiedener Strömungen des Islam zu verstehen, verwenden Sie das Konzept der religiösen Ökonomie – wie kann man sich das konkret vorstellen?

Green: Es geht dabei nicht darum, Religion auf Ökonomie zu reduzieren, sondern die Werkzeuge der Ökonomie zu verwenden, um die Rolle von Religion in der Gesellschaft zu verstehen. Was uns die religiöse Ökonomie lehrt, ist, dass wenn wir religiöse Player betrachten, wir uns ihre Strategien, Methoden und Technologien ansehen müssen. Sie verwenden etwa seit längerem die Rhetorik der Revolution, die ursprünglich aus Europa stammt. Heute verwenden sie zudem Technologien wie Facebook. Was uns das Konzept der religiösen Ökonomie zu verstehen erlaubt, ist, dass die verschiedenen Strömungen des Islam in einem Wettbewerb zueinander stehen. Manche Wirtschaftsräume sind frei, wie in Europa, da gilt die Regel, dass der Staat sich nicht in religiöse Belange einmischt. Die meisten islamischen Länder sind in dieser Hinsicht kein freier Wirtschaftsraum, sondern der Staat mischt sich ein, er reguliert und dominiert – etwa im Iran oder in Saudi-Arabien.

STANDARD: Ist der Islamismus das logische Produkt des Islam, oder speist er sich vor allem aus einem Gefühl von Unterdrückung?

Green: Der Islamismus hat ein Narrativ aus Gegensätzlichkeit, Konflikt und Unterdrückung. Dieses muss hinterfragt werden, sowohl in Europa als auch außerhalb. Ich denke, dass es wichtig ist zu erkennen, dass Islamismus eine Ideologie ist. Was man in den Biografien vieler Terroristen sieht, ist, dass sie nicht notwendigerweise aus einem unterdrückten Umfeld kommen. (Tanja Traxler, 12.8.2016)