Pasta, Antipasti, Risotti: Italiens Küche ist weltweit für ihre Schlichtheit und Gesundheit bekannt. Weniger schlicht ist, womit sich das italienische Parlament herumschlagen muss. Die Abgeordneten beschäftigt mit der Frage nach der Zulässigkeit veganer Ernährung ein pikanter Gegenstand. Silvio Berlusconis Partei, die oppositionelle Forza Italia, hat einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der es in sich hat. Er sieht für Eltern bis zu einem Jahr Haft vor, wenn diese ihren Sprösslingen unter 16 Jahren eine "vegane Diät" verordnen, ihnen also Nahrung tierischer Herkunft wie Fleisch, Milch oder Eier vorenthalten.

Das Land, in dem Essen immer schon als wichtiger Teil der Identität verstanden wurde, hat damit ein bemerkenswertes Streitthema. Auf Italien ist es nicht beschränkt. In der georgischen Hauptstadt Tiflis soll es Ende Mai auch heftiger zur Sache gegangen sein. Unbekannte haben laut dem britischen Guardian das vegane Kiwi-Café attackiert. Die Betreiber beklagten auf Facebook den "Überfall" so: "Sie haben Fleisch, Würste und Fisch herausgeholt, damit herumgeworfen und davon gegessen – nur um uns zu provozieren und uns respektlos zu behandeln."

Eine Beere ist eine Beere ist eine Beere. So einfach ist es allenfalls in der Literatur. In der elaborierten Produktwelt haben viele ob des Angebots ein bisschen die Orientierung verloren. So viele Sachen, die nicht einfach sind, was sie scheinen. Weswegen auch beim Essen Vorsicht geboten ist.

Wie ist das alles einzuordnen? Kann man nicht mehr essen, was man will? Hat die Nahrungsaufnahme seine Unschuld verloren? "Essen war immer politisch", sagt Hanni Rützler. Die gebürtige Vorarlbergerin beschäftigt sich seit 30 Jahren beruflich mit dem Thema. Seit Jahren versucht sie in ihrem vielbeachteten unter der Schirmherrschaft des deutschen Zukunftsinstituts erscheinenden Foodreport zu erfassen, was in Sachen Ernährung das nächste große Ding ist. Und da ist ihrer Ansicht nach einiges im Schwange: "Früher war Essen Ausdruck einer sozialen Schicht. Heute leben wir im Lebensmittelüberfluss und lernen langsam, damit umzugehen. Lebensmittel werden zum Stilmittel, mit dem man die persönlichen Werte, die eigene Identität konstruieren, aber auch kommunizieren kann."

Ein Satz, den Thomas Primus nicht treffender formulieren könnte. Der smarte 37-Jährige kommt aus dem Epizentrum der Finanzwelt. Fremdwährungen und Derivate zu verkaufen war sein – hochbezahlter und mit Boni abgegoltener – Job. Doch dann kam die Krise. "Die goldenen Zeiten waren vorbei, und ich habe den Glauben verloren, dass das Finanzsystem ehrlich und gut ist."

In unseren Breiten wollen die Konsumenten "nicht verarscht werden", sagt Thomas Primus. Der frühere Investmentbanker landete über die Sinnfrage auch beruflich beim Essen.
Foto: FoodNotify/Michael Molzar

Ehrlichkeit gesucht

Diese Worte gehen dem geborenen Waldviertler leicht über die Lippen. Man will ihm sogar glauben – immerhin hat er anfangs auf einige Zehntausend Euro Jahresgehalt verzichtet, um – ja um sich beruflich dem Thema Essen zuzuwenden. Dort, wo es auch um Ehrlichkeit gehen sollte und könnte, wie Primus sagt: "Man will nicht verarscht werden." Er machte daraus ein Geschäft. Dem Ärger der Wirte, dass sie allergene Stoffe ausschildern müssen, setzte er mit seinem Start-up Food Notify eine Web-Application entgegen, die nach Eingabe von Zutaten für ein Rezept die Allergene ausspuckt.

Warum das Thema Essen? Genuss sei damit eng verbunden: "Wenn meine Frau und ich Freunde einladen, ist das ein Tageserlebnis. Wir gehen auf den Markt, dann wird stundenlang gekocht." Seine Frau habe schon immer interessiert, "was in den Produkten drin ist, wo sie herkommen, wie sie produziert werden. Essen hat jeder selbst in der Hand."

Wertewandel am Teller

Eine Erkenntnis, die offenbar immer mehr Menschen umtreibt. Die Zahl jener, die sich von der traditionellen Küche ganz oder teilweise abwenden, nimmt sukzessive zu, wie die letzten verfügbaren Zahlen zeigen. Bei einer repräsentativen Ifes-Umfrage im Jahr 2013 erklärten neun Prozent, (zehn Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer), dass sie vegetarisch oder vegan leben. Bei den unter 40-Jährigen erreichte der Anteil 17 Prozent. 2005 hatten sich lediglich drei Prozent als fleischlose Esser geoutet.

Darin spiegle sich auch ein Wertewandel wider, sagt Ernährungsexpertin Rützler: "Wir identifizieren uns immer weniger über Mode, Musikvorlieben oder Autos, sondern darüber, was wir essen und vor allem sehr stark darüber, was wir nicht essen. Früher hieß es: Zeig mir was, du isst, und ich sage dir, wer du bist. Heute heißt es: Sag mir, was du nicht isst, und ich sage dir, wer du bist."

Die AMA (Agrarmarktservice Austria) befragte die Österreicher was sie an Fleisch und Wurst in ihrem Einkaufskorb haben.
Grafik: APA

Warum das so ist? Weil beim Thema Essen jeder mitreden kann. Bleibt die Frage, warum die Diskussionen zuweilen heftig ausfallen. Fleischesser gegen Veganer, bio versus konventionell, um nur einige der Bruchlinien zu nennen. Sebastian Bohrn Mena hat einen Erklärungsansatz: "Viele Glaubensgrundsätze verändern sich gerade. Es geht um die Frage, wie wir leben wollen. Und da gibt es vieles, wo wir gerade draufkommen, dass wir es vielleicht doch nicht mehr so wollen.

Viel Zündstoff

Ganz gleich ob aus Tierschutz-, Umwelt- oder Gesundheitsgründen." Der Ökonom, SPÖ-Jungpolitiker und Volksbildner weiß, wovon er spricht, lebt er doch seit einigen Jahren selbst vegan. Ein "Bekehrter", der jetzt andere aufklären will – viel Stoff zum Streiten. Beim Essen kämen eben nicht nur die Leute zusammen, sondern auch die Weltanschauungen.

Zur Konsumkritik kommen Gesundheitsaspekte, Klimaexperten reiben uns immer öfter die Rolle von Fleisch als oberster Klimasünder unter die Nase. Die großen Fragen der Menschheit haben, wenn man die entsprechende Brille aufsetzt, eben auch mit Essen zu tun.

Wer gerne und oft Fleisch isst, hat zunehmend Erklärungsbedarf. Vor allem immer mehr Jüngere verzichten ganz darauf. Andere akzeptieren nur noch den Braten, den sie lebendig mit eigenen Augen durch Wald und Wiese hoppeln sahen.
Foto: STANDARD/Newald

Sogar das Thema Religion wird auf dem Teller verhandelt. Immer häufiger wird mit Halal, koscher, vegan als Eigenschaften für Lebensmittel geworben. Wer sich für Essen interessiert, greift auch aus Sicherheitsgründen zu diesen Produkten, weiß er oder sie doch recht genau, was drinnen ist. Daneben rücken spirituelle Aspekte in den Vordergrund, als eine Art spezifischer Lifestyle – "Trend zu Spiritual Food" nennt Rützler das. Für manche wird Essen demnach zur Religion. Eine These, die auch der Shitstorm untermauert, den eine heimische Handelskette mit ihrer Ankündigung, Halal-Produkte ins Sortiment zu nehmen, hervorrief.

Doch das ist noch lange nicht alles: Auch die Tatsache, dass Sicherheit dieser Tage als äußerst fragil erlebt wird, könnte eine Rolle spielen, glaubt Bohrn Mena: "Gerade heute, wo wir das Gefühl haben, dass wir sehr viel nicht mehr kontrollieren können, empfinden das beim Essen viele anders. Was ich esse, kann ich selbst steuern. Und man muss das dann nach außen auch verteidigen."

Gemüse hat das Zeug zum neuen Superfood – auch wenn an künstlichem Fleisch und Kraftfood biotechnologischer und chemischer Provenienz emsig getüfelt wird. Start-ups mit radikal neuen Biotech-Lösungen und Design-Food-Ideen werken derzeit in den USA.

Fleischkonsum ist wohl die am heftigsten umstrittene Frage. Zu Recht, befindet Rützler: "In den 1960er-Jahren ist Fleisch auch durch Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft zu einem Alltagslebensmittel geworden. Ein, zwei Generationen später tun sich junge Menschen schon leicht zu sagen, eigentlich ist das so normal, dass ich gut darauf verzichten kann. Außerdem ist die Art, wie wir Tiere züchten, halten und töten, unappetitlich." Es seien die richtigen Fragestellungen im Lebensmittelüberfluss.

Steven Clark, ein englischer Ethiker, geht sogar so weit zu sagen, jedes Essen von Fleisch sei in unseren Breiten "gedankenlose Völlerei". So viel Moral zeitigt naturgemäß Widerstand. So manche sehen eine weitere Bastion der Freiheit wanken, sagt Ökonom Bohrn Mena. Oft gehört habe er in dem Zusammenhang: "Jetzt habe ich schon mit dem Rauchen aufgehört, jetzt wollt ihr mir auch noch den Schweinsbraten wegnehmen."

Gipfel beim Fleischkonsum erreicht

Rützler sieht aber auch abseits der moralischen Fragen eine Trendwende. All die Neuzuwächse im Club der Spezialkostadepten- und Konsumenten wie Allergiegeplagten oder solchen, die meinen, es zu sein, Produkte, wie gluten- und lactosefrei, verortet sie eher unter dem Aspekt Produktneuheiten und Moden. Etwas anderes habe es mit Fleisch auf sich: "Es verliert seine Rolle als Leitsubstanz, wir haben Peak-Meat erreicht." Wenn das Fleisch nicht mehr Platzhirsch auf dem Teller ist, wird neues Terrain erobert, sagt Rützler. "Gemüse wurde in unserem Kulturraum sehr stiefmütterlich behandelt. Jetzt werden Beilagen mehr und mehr zu Hauptdarstellern." Zu verdanken ist der Umbruch auch den vielen Umtriebigen in Sachen Essen. War es früher auf die Frage nach dem eigenen beruflichen Umtrieben schick, mit "irgend was mit Medien" zu antworten, scheint heute eher "irgend was mit Essen" angesagt.

Warum sich viele dafür interessieren, erklärt sich Gründer Primus so: "Die Industrie hat Produkte gleich gemacht, um immer mehr Menschen zu versorgen. Erdäpfel und Tomaten schmecken aber auch gleich." Jetzt gehe es wieder mehr in Richtung Pluralismus. Was er auch einräumt: "Sicher ist das ein irrsinniges Geschäft. Ein bis drei Prozent haben eine Allergie, 25 Prozent eine Nahrungsmittelunverträglichkeit." So manch einer greife da wohl zur 50 Prozent teureren lactosefreien Butter, um auf der sicheren Seite zu sein, doch da liege die Verantwortung eben auch beim Konsumenten: "Sich zu interessieren ist ganz einfach notwendig."

Nicht nur auf den Tellern ist der Umbruch zu spüren. Künstler gründen Allergie-Cafés, vegetarische und vegane Restaurants schießen wie die Schwammerln aus dem Boden, Start-ups liefern nicht nur ins Haus, sondern auch in den Park. Bio kochen und mit dem Lastenfahrrad auszuliefern gehört ebenso dazu wie Unternehmen, die ihren Kunden Kochideen inklusive der Zutaten liefern.

Auch Nikolaus Franke vom Institut für Entrepreneurship und Innovation an der WU Wien ortet starkes Interesse am Themenkomplex – aus einem einfachen Grund: "Wichtige Impulse für Gründer sind eigene Erfahrungen. Man versucht, ein Problem für sich zu lösen. Dann merkt man, dass man die Lösung auch anderen anbieten kann." Ein Start-up müsse etwas Innovatives finden, weil es nicht so leicht sei, billiger zu sein als die bestehenden Angebote.

Lieferung und Nische

Auf Lieferung, Services und Nischenprodukte würden sich die heimischen Start-ups fokussieren. Und das aus gutem Grund: "Der Handel ist relativ konservativ, dort gelistet zu werden ist teuer. Der Marktzugang wird von großen Ketten beherrscht." Ein grundsätzliches strategisches Problem neuer Anbieter sei es, mit dem Essen zu den Leuten zu kommen. "Eine Verbindung zwischen Konsument und Kunde herzustellen mithilfe technologischer Lösungen – unter Umgehung der traditionellen Anbieter, etwa des Handels oder auch der Gastronomie – bietet Raum für innovative Lösungen. Hier tut sich auch viel."

Auch an den Landwirten geht der Wandel zur Wissensgesellschaft nicht spurlos vorbei, sagt Wifo-Ökonom Franz Sinabell. Angesichts dessen, dass es bei zahlreichen Produkten schwierig ist, mit Weltmarktpreisen mitzuhalten, versuchen die Bauern anderswo, Wertschöpfung zu kreieren, und nehmen zunehmend das Zepter in die Hand. "Der direkte Bezug zwischen Konsumenten und Produzenten wird wieder stärker", so Sinabell. Foodkooperationen sind so ein Beispiel. Sie beliefern Konsumenten, die bereit sind, für nachhaltige Produkte mehr auszugeben. Andere Erzeuger ziehen ihre Schweine im Wald groß und lassen ihnen bis zur Schlachtung dreimal so viel Zeit wie in der herkömmlichen Zucht, weil der Konsument dafür entsprechend bezahlt.

Heuschrecken, Zophobas (Larven vom Riesen-Schwarzkäfer) und Mehlwürmer: Was in anderen Kulturkreisen ganz selbstverständlich auf dem Teller landet, ist in unseren Breiten noch gewöhnungsbedürftig.
Foto: APA/dpa/Carsten Rehder

Technische Lösungen wie Kühlboxen, die es erlauben, frische Produkte auch am nächsten Tag zuzustellen, ermöglichen neue Wege. Das Preisgefüge werde sich dennoch nicht nachhaltig verändert, sagt Sinabell. Die Haushaltsausgaben für Essen liegen in Österreich im EU-Schnitt bei rund zwölf Prozent, und das seit rund zehn Jahren. In den USA sind das fünf Prozent.

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Hanni Rützler beim Verkosten des Labor-Burgers: Nicht mit Ignoranz, Ekel und Vorurteilen neuen Entwicklungen zuwenden.
Foto: REUTERS/David Parry

Zukünftig könnte die Entwicklung ähnlich verlaufen wie bei Milch. Durch den hohen Anteil an Bio- und Heumilch sind die Preise um einige Cent höher als in Deutschland. "Für die Produzenten nicht zu vernachlässigen", sagt Sinabell. Eine ähnliche Richtung könnte Fleisch nehmen.

Kaufen können es die Kunden auch über die vielen neuen kleinen Shops, die derzeit in Rekordtempo in Großstädten eröffnet werden, wie Rützler konstatiert. "Es wird, im Parallellauf, sowohl regionaler als auch individueller." Um die Macht des Handels zu brechen, seien die Kleinen aber zu leichtgewichtig: "Er ist so mächtig, dass er sich nicht schnell bewegen muss. Aber die Kleinen piksen die Großen."

Zu der quirligen Szene kommen biotechnologische Neuerungen und andere Ansätze – Stichwort Welternährung. Rützler befindet, es sei wichtig, sich "nicht mit Ignoranz, Ekel und Vorurteilen etwa dem Thema Insekten zu nähern". Auch der Labor-Burger gehöre dazu. Rützler hat ihn als einzige Europäerin probiert, als er einer erlauchten Journalistenschar vorgesetzt wurde. Ihr Urteil: "Überraschend nah am Fleisch."

Die Diskussion darüber, wer das essen will und soll, hat noch gar nicht so richtig begonnen. Sie könnte noch deftig ausfallen.