Droschken. Der Karlsplatz. Links ein Wagner-Pavillon. Werbung für "Seefische". Deutlich zu erkennen: die Secession. Wir sind in Wien, kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende. Und dies mitten in der deutschen Bankenmetropole Frankfurt, die aktuell die Londoner Brokerkaste lockt. Das stark vergrößerte Straßenfoto ist das Entree zur Schau "Kunst für alle – Der Farbholzschnitt in Wien um 1900" in der Schirn-Kunsthalle, kuratiert von Tobias Natter, Ex-Belvedere-Chefkurator, Ex-Leopold-Museum-Direktor.

Ludwig H. Jungnickels "Rauchende Grille" (1910).
Foto: Privatsammlung Deutschland

Rund 240 Werke von 47 Künstlerinnen und Künstlern hat Natter ausgewählt, sich bis auf ganz wenige Ausnahmen strikt auf das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, die Jahre 1900 bis 1910, beschränkt. Merkwürdigerweise stimmt sein Befund, dass der mehr als nur dekorative, reproduktionsaffine Farbholzschnitt in Ausstellungen über das kunsthistorisch so gründlich ausgeleuchtete "Wien um 1900" Stiefkind geblieben ist.

Erstaunliches zeigt sich. Vergessene werden ins Licht gerückt, Marie von Uchatius, Leontine Manteles, Hugo Henneberg, Rudolf Kalvach, Nora Exner, Ferdinand Andri. Überraschende Verbindungen zeigen sich. So erinnert "Zirkus (Gaukler in der Stadt)", entstanden um 1906/07 im Umfeld der Wiener Werkstätte, stark an die schrägen Stadtkarikaturen Lyonel Feiningers. Kinderporträts und Landschaften Broncia Koller-Pinells führen vor, dass Egon Schiele nicht aus dem luftleeren Raum kam.

Geschmeidiger Stilpluralist

Gustav Marischs Märchenskurrilitäten verweisen deutlich auf die Grotesken des Tirolers Paul von Rittinger. Fanny Zackuckas "Schönbrunn" von 1903 scheint Giorgio de Chiricos Arkaden-Bilder direkt vorwegzunehmen. Und Carl Anton Reichels Pop-Art-Aktstudien könnten 60 Jahre später von Mel Ramos stammen. Schließlich der Deutschprager Emil Orlik: Der geschmeidige Stilpluralist – war er in Japan, war er japanischer als japanische Künstler, variierte er Munch, war er ein hochklassiger Munch – und sensible Porträtist, der 1904 in Wien am Stubenring ein Atelier bezog, schon ein Jahr später nach Berlin umsiedelte, Professor an der Kunstgewerbeschule wurde und Schüler wie George Grosz und Hannah Höch hatte, sollte endlich wieder in größeren Museen gezeigt werden als jüngst im Schloss Moyland am Niederrhein oder auf der Ostseeinsel Hiddensee.

"Zirkus (Gaukler in der Stadt)", entstanden um 1906/07 im Umfeld der Wiener Werkstätte.
Foto: Richard Lürzer

Labyrinth für alle

Dem Theaterregisseur Ulrich Rasche ist die Ausstellungsarchitektur übertragen worden. Und er inszeniert. Heftig. Hat Rasche 2015 in Frankfurt am Main in seiner Inszenierung von Büchners "Dantons Tod" die Schauspieler permanent auf rotierenden Walzen sich bewegen lassen – Achtung, Durchsage: Die Revolution zermalmt Schuldige wie Unschuldige! -, so hat er nun in die Schirn Expressionistisches gestemmt: sechzig je vier Meter hohe, japantintenschwarze, jeweils um vier Grad geneigte "Module" alias Holzplatten, die überdeutlich an die schiefen Kulissen in Robert Wienes Film "Das Cabinet des Dr. Caligari" von 1920 erinnern.

Das ist, wie zu beobachten, für Besucher verwirrend. Weil eine Art Labyrinth entsteht. Weil sich kein System der Hängung erschließen will. Den Titel der Schau "Kunst für alle" deutet Rasche auf diese Weise um zu "Rundgang nach Gusto". Erst wenn man mehrmals kreuz und quer durch den großen Saal und die sich daran anschließende Galerie gegangen ist und noch öfter wieder retour, erschließt sich Natters und Rasches Konzept.

Im großen Bereich ergeben sich kleine, halboffene Kabinette der Synchronizität, separierte Präsentationen der gleichzeitig in Wien tätigen Künstlerinnen und Künstler – was Querverbindungen der individuellen Handschriften aber nur durch motorische Bewegung ermöglicht.

So bunt wie erhellend

Im zweiten Teil, einem langen Saal – Rasches Module-Weg ist hier infolge der relativen Enge ruhiger –, folgen Technikaspekte: Druckblöcke, Farbdruckstadien, Sondertechniken wie Linolschnitt, Stempeldruck, Ludwig Jungnickels körnige Schablonenspritztechnik oder Franz von Zülows Papierschnittdruck, wichtige Zeitschriften wie "Ver Sacrum" und "Die Fläche", Podien wie die "Gesellschaft für vervielfältigende Kunst", Jahreskalender und Tapeten für Kinder, so originell und zeitgenössisch, dass man sich fragt, wieso sie heute nicht im Handel erhältlich sind. Am Ende ist diese Schau so bunt wie klug erhellend. (Alexander Kluy aus Frankfurt am Main, 17.8.2016)