Wien – Einer der erstaunlichsten österreichischen Spielfilme seit langem blieb vor drei Jahren beinahe unbemerkt. In seinem Debüt Mein blindes Herz erzählt Peter Brunner, geboren 1983 in Wien, die Geschichte eines am Marfan-Syndrom erkrankten Mannes. Zu den häufigen Symptomen des genetischen Defekts zählen die Ablösung der Netzhaut sowie eine Fehlfunktion des Herzens und Spinnenfingrigkeit. Christos Haas, selbst von der Krankheit betroffen, spielte diesen Mann, der sich gewaltsam von seiner Mutter löst und mit der jungen Ausreißerin Conny (Jana McKinnon) in einem aufgelassenen Dachboden Unterschlupf findet, einem Fluchtort, der kein Zuhause wird.

Das Begreifen geht dem Verstehen voraus: Eine Großmutter, die ihren Abschied aus dem Leben vorbereitet, ist das Zentrum von Peter Brunners außergewöhnlichem Film "Jeder der fällt hat Flügel".
Foto: Cataract Vision

Das Bemerkenswerte an diesem in stechendem Schwarz-Weiß gehaltenen Film ist die Art und Weise, wie Brunner sich dem Innenleben seines Protagonisten – den der Filmemacher seit der Schulzeit persönlich kennt – nähert, der sich beinahe gänzlich erblindet der Realität und seiner Außenwelt stellt. Brunner versucht erst gar nicht mithilfe von Kameratechnik die Einschränkung zu imitieren, sondern entwirft einen Erfahrungsraum aus Gedanken und Assoziationen. "Das Leben ist wie Kriegführen", bemerkt die aus dem Off flüsternde Stimme. "Wir sitzen in einem Theater der Grausamkeit, das weder Bühnen oder Reihen noch Sitzplätze kennt. Schöpfung durch Zerstörung."

Mein blindes Herz macht diesen Prozess der Zerstörung, aus dem etwas Neues, aber ebenso Gewaltvolles entsteht, spürbar, indem er dafür eine ganz eigene Sprache entwickelt: abstrakt, experimentell, haptisch – das alles sind nur Hilfsbegriffe, um dieser Besonderheit dieser Grenzerfahrung gerecht zu werden.

Cataract Vision

Seltene Eindringlichkeit

Auf den ersten Blick wirkt Jeder der fällt hat Flügel homogener als sein Vorgänger, wenngleich auch Brunners zweite Arbeit sich keiner Erzählung widmet, sondern einem Gefühlszustand annähert. Jana McKinnon, das Mädchen aus Mein blindes Herz, taucht hier als 15-jährige Enkelin auf, die mit ihrer kleinen Schwester ihre Großmutter besucht – wahrscheinlich zum letzten Mal.

Der Raum, der sich hier in einem Einfamilienhaus mit Garten und seiner näheren Umgebung auftut, wird während einiger weniger Sommertage somit zu einem Ort des Abschieds. Denn die kranke Großmutter, die mit ihrer Weisheit, ihrer Lebenserfahrung und ihrer Zuneigung zu den Kindern immer mehr zum Zentrum dieses Films wird, muss die Enkelin auf ihren Tod vorbereiten. Doch ist so etwas überhaupt möglich ohne tiefe Wehmut? Auch in Jeder der fällt – in dem Christos Haas einen schemenhaften, unheimlichen Auftritt hat – übernimmt eine Stimme, diesmal jene der jungen Frau, wie eine Lotsin die Führung durch einen verstörenden Bilderreigen: "Alles, was du gegeben hast, zerstörst du, wenn du gehst."

Brunners Filme widmen sich den großen, existenziellen Fragen wie Krankheit und Tod, denen das gegenwärtige Kino allzu oft mit einfachen Antworten begegnet, mit seltener – und seltsamer – Eindringlichkeit.

Eine der schönsten Antworten hört man in Mein blindes Herz: "Der Zufall im Leben ist ein Zufall, mit dem wir leben müssen." (Michael Pekler, 1.9.2016)