Sebastian Kurz: "Ich finde, dass die Regierung extrem viel zu tun hätte und gut beraten wäre, endlich zu handeln. Sämtliche Koalitionsdiskussionen und Personaldebatten lenken vom Wesentlichen ab, und das sollten wir uns ersparen."

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Außenminister Sebastian Kurz weist Vorwürfe zurück, er laufe in Sachen Flüchtlinge der FPÖ nach. Diese sei destruktiv und anders als er gegen europäische Lösungen. Kurz fordert zudem ein Ende der ÖVP-Obmanndebatte.

STANDARD: Kanzler Christian Kern hat für den EU-Gipfel Mitte September einen konkreten Vorschlag zum Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei angekündigt. Hat die Regierung schon eine gemeinsame Position?

Kurz: Vizekanzler Reinhold Mitterlehner hat dazu das Konzept aufgegriffen, das bereits auf Wolfgang Schüssel und Ursula Plassnik zurückgeht. Es ist das Konzept der privilegierten Partnerschaft beziehungsweise einer maßgeschneiderten europäisch-türkischen Interessenunion, einer Zusammenarbeit mit der Türkei, aber keines Beitritts. Das hat meine Unterstützung. Ich glaube, dass sich das in weiten Teilen mit den Vorstellungen des Bundeskanzlers deckt. Wir werden das in der Tiefe bis zum Europäischen Rat besprechen. Wir ziehen hier an einem Strang.

STANDARD: Dass es eine Initiative geben wird, ist also fix?

Kurz: Ich habe das in den vergangenen Wochen bereits mit meinen Außenministerkollegen besprochen, ich gehe davon aus, dass auch der Kanzler das bei den Regierungschefs thematisieren wird. Meine Möglichkeit auf Außenministerebene ist, mitzuentscheiden, ob weitere einzelne Verhandlungskapitel eröffnet werden. Da bin ich der Meinung, dass wir keine Kapitel eröffnen sollten, und ich gehe auch davon aus, dass das in naher Zukunft nicht stattfindet. Ein Abbruch der Verhandlungen ist jedoch Sache der Regierungschefs.

STANDARD: Beim Forum Alpbach haben türkische Intellektuelle, die pro Europa sind, davor gewarnt, die Tür zum EU-Beitritt zuzuschlagen, weil es der Demokratie mehr schadet als nützt. Wem nützt das alles?

Kurz: Diese Position überrascht mich nicht, das ist bekannt. Die Frage ist, ob wir in Europa ein Interesse haben, dass die Türkei Mitglied der Union wird. Die Entwicklungen in den letzten Jahren waren derart, dass sie die Türkei weiter von Europa weggeführt und nicht näher herangebracht haben. Das Zweite ist, dass es nach der Brexit-Abstimmung und dem kommenden EU-Austritt Großbritanniens eine Debatte braucht, wie sich die Union weiterentwickeln soll, was unser Konzept dafür ist und wie wir mit der Erweiterung umgehen. Meine Haltung zu den Balkanstaaten ist bekannt, sie brauchen eine europäische Perspektive. Was die Türkei betrifft, sie braucht einen guten Kontakt zur EU, aber der Weg kann nicht der Beitritt sein.

STANDARD: Nun gibt es Hinweise darauf, dass die Verhandlungen zur Wiedervereinigung des geteilten Zypern erfolgreich abgeschlossen werden könnten – im Oktober zwischen der Türkei und dem EU-Mitglied Zypern. Stimmt das, und besteht dann nicht die Gefahr, dass Österreich im Widerstand gegen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei allein bleibt?

Kurz: Zunächst, ja, es stimmt, dass es eine positive Dynamik in Zypern gibt, das würde das Verhältnis entspannen. Es wäre gut, nicht nur für Zypern und die Türkei, sondern für die gesamte Europäische Union. Ich hoffe, dass es gelingt, eine Lösung zu finden. Das würde aber nichts daran ändern, dass es nach dem versuchten Putsch zehntausende Verhaftungen gab und versucht wird, Andersdenkende einzuschüchtern, dass die Entwicklung in Bezug auf Menschenrechte in der Türkei leider Gottes negativ ist. Bei der Forderung nach Abbruch war Österreich nicht allein. Auch EVP-Fraktionschef Manfred Weber im Europaparlament und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer haben diese Forderung erhoben.

STANDARD: An die Zypern-Lösung geknüpft ist die Visaliberalisierung. Wird die ebenso kommen?

Kurz: Die Türkei drängt seit langem darauf, dafür müssen aber die Kriterien erfüllt sein. Ich bin dagegen, dass wir uns aufgrund des Flüchtlingsdeals erpressen lassen und der Visaliberalisierung zustimmen, auch wenn die Kriterien nicht erfüllt sind.

STANDARD: Die Türkei bleibt ein Schlüsselland für die EU, der Syrien-Konflikt scheint uns wieder näher zu rücken. Was kann Europa zur Lösung beitragen, oder kann es nur zuschauen wie bisher?

Kurz: Es gab eine klare Entscheidung, wer diesbezüglich die Führung übernimmt, nämlich der UN-Sondergesandte. Wir sind Mitgliedsstaaten der UN, sollten keine Parallelaktionen starten. In den in Wien gestarteten Prozess war die Union entsprechend eingebunden, der Lead liegt aber bei den USA und Russland. Ich bin auch frustriert, wenn in Konflikten die Lösung in weiter Ferne liegt, nichts weitergeht. Aber es macht keinen Sinn, ständig neue Verhandlungsformate zu erfinden. Es braucht dagegen einen neuen Anlauf des sogenannten Wiener Prozesses, der in Wien gestarteten Friedensgespräche.

STANDARD: Ein breites Thema beim Außenministertreffen in Bratislava ist die Entwicklung in der Ukraine. Was ist zu erwarten?

Kurz: Es wird Versuche geben, die Minsker Vereinbarung Stück für Stück auf den Boden zu bringen. Der Waffenstillstand war in letzter Zeit mehr als brüchig. Ziel muss sein, dass der Waffenstillstand seit Schulbeginn in den Krisengebieten hält. Das wäre für die Menschen dort ein wichtiger Schritt, würde ein positives Signal zwischen der EU und Russland bedeuten.

STANDARD: Vor der Sommerpause gab es viele, die sagten, man müsse bei den Sanktionen gegen Russland jetzt langsam wieder zum Dialog zurückkehren. Was kommt da?

Kurz: Es wurde im Juni von den Regierungschefs die Sanktion ohne Diskussion verlängert. Diesmal wird es eine Diskussion darüber geben, aber es ist wichtig, dass wir gemeinsam als Europa an einem Strang ziehen. Ich gehöre bei den Ministern einer Gruppe an, die die Sanktionen gegen Russland eher kritisch sieht. Es muss das oberste Ziel sein, ein besseres Verhältnis zu Russland herzustellen und einen Beitrag zu leisten, dass es eine Entspannung im Ukraine-Konflikt gibt. Die Sanktionen dürfen kein Selbstzweck sein.

STANDARD: Wie geht es in der EU beim Thema Migration weiter?

Kurz: Es kommen seit Tagen wieder mehr Menschen nach Italien, die Situation ist höchst angespannt. Wenn Italien die Menschen nach Norden weiterwinkt, dann kommen sie über die Brennergrenze, und das ist etwas, das wir nicht stemmen können.

STANDARD: Wiederholt sich 2015?

Kurz: Dass es zu Zahlen wie 2015 kommt, sehe ich derzeit nicht. Es gibt inzwischen die entsprechenden Signale der Union, es ist klargestellt, dass nicht jeder nach Europa kommen kann. Wir gehen heute gegen Schlepperbanden vor, die ankommenden Menschen werden nicht mehr in Bussen und Zügen quer durch Europa weitertransportiert. Daher gehe ich nicht davon aus, dass die Zahlen so stark steigen werden wie 2015. Aber die Zahlen sind noch immer viel zu hoch, der Schutz der EU-Außengrenzen ist noch immer nicht vorhanden. Wir sind noch weit entfernt von einer Lösung. Nur weil wir nicht dieselbe Katastrophe erleben wie im letzten Jahr, heißt das nicht, dass das Problem der illegalen Migration gelöst ist.

STANDARD: Was ist das Motiv dafür, dass die ÖVP-Minister seit Wochen den Tonfall so verschärfen?

Kurz: Es geht nicht darum, den Ton zu schärfen, sondern sachlich zu sein, aber in der Sache auch sehr klar zu sein. Ich habe im vergangenen Jahr davor gewarnt, dass die unbeschränkte Aufnahme nicht funktioniert. Dabei bleibe ich. Als Integrationsminister habe ich die Verantwortung, Maßnahmen zu setzen, damit wir die Situation so gut wie möglich bewältigen. Wenn 90.000 Menschen nach Österreich kamen und vermutlich 50.000 bleiben dürfen, wenn die Arbeitslosigkeit bei Flüchtlingen um 50 Prozent gestiegen ist, kann man nicht sagen: Alles gut, alles in Ordnung. Dann müssen doch andere zugeben, dass es große Herausforderungen gibt, man Maßnahmen setzen muss, um das Ausmaß der Probleme gering zu halten.

STANDARD: In der Öffentlichkeit bleibt aber nicht eine ruhige, sachliche Debatte über restriktive Maßnahmen hängen, sondern Begriffe wie Australien-Modell mit Lagern, Zwang zu Ein-Euro-Jobs. Ist das notwendig, war das ein Fehler von Ihnen?

Kurz: Politiker und Medien sollten versuchen, das alles rationaler zu diskutieren und mit weniger Schaum vorm Mund. Wenn jemand einen besseren Vorschlag hat zum Schutz der EU-Außengrenzen als das Konzept der Minister Doskozil, Sobotka und von mir, dann soll er es sagen. Wenn jemand einen besseren Vorschlag hat zu gemeinnütziger Arbeit für Menschen, die fünf oder zehn Jahre lang keinen Job finden, soll er es sagen. Ich bin der Erste, der für gute Vorschläge zu haben ist. Wofür ich aber nicht zu haben bin, ist, so zu tun, als gäbe es keine Probleme, und die Bürger für dumm zu verkaufen.

STANDARD: Die Kritik an Ihnen wie an Doskozil ist, dass Sie einer FPÖ nachlaufen, die seit Jahren alle nur möglichen restriktiven Maßnahmen gegen Ausländer und Migranten verlangt. Was sagen Sie dazu?

Kurz: Behaupten kann man viel. Man soll mir ein Zitat von mir nennen, das aggressiv oder mit Schaum vorm Mund sich gegen Migranten richtet. Ich habe immer versucht, sachlich zu argumentieren, auf Basis von Fakten, und ich habe Vorschläge gemacht, zu denen ich zu hundert Prozent stehe, die ich argumentieren kann, die auch von namhaften Experten unterstützt werden.

STANDARD: Was ist der Unterschied zwischen Ihnen und der FPÖ?

Kurz: Welche Aussage von mir kennen Sie, die nicht in Ordnung wäre?

STANDARD: Zum Beispiel das Modell Australien in die Debatte einzuführen. Warum ist das notwendig? Das bringt die Debatte automatisch in eine ungute Richtung. Dort werden Flüchtlinge in Lagern auf Inseln eingesperrt, unter grauenhaften Umständen. Das will in Europa niemand.

Kurz: Ich auch nicht, daher habe ich immer gesagt, dass wir weder Australien noch Spanien eins zu eins kopieren können. Aber die Grundsätze des Modells halte ich für richtig. Ich habe immer gesagt, dass ich Menschenrechtsverletzungen verurteile, egal, wo sie stattfinden, dass wir die Menschen, die zu uns kommen, ordentlich und human behandeln müssen. Aber ich habe auch gesagt, dass der Grundzugang des australischen Modells, Illegale zu stoppen und die Hilfe vor Ort auszubauen, und die Schaffung legaler Wege nach Europa der richtige Weg ist.

Wenn wir illegale Migration stoppen und den Schleppern die Geschäftsgrundlage entziehen wollen, dann müssen wir an den Außengrenzen tätig werden, müssen Illegale zurückstellen. Wenn jemand auf den Inseln im Mittelmeer ankommt, gibt es zwei Möglichkeiten: Er oder sie wird weitergewunken, oder man stoppt sie dort. Wer für Weiterwinken ist, soll das laut sagen.

STANDARD: Für einen Außenminister ist es nicht angenehm, wenn ihm vorgehalten wird, er kopiere die Ausländerpolitik der FPÖ, die in Europa als extrem rechts gilt, im Europaparlament in einer Fraktion mit Marine Le Pen sitzt. Was unterscheidet Sie von der FPÖ?

Kurz: Das Destruktive habe ich nicht. Ich bin mit 16 Jahren der Jungen ÖVP beigetreten und in meiner Weltanschauung gefestigt, mit der Zuversicht, dass man etwas Positives bewirken kann. Ich versuche, Probleme anzusprechen, Lösungsvorschläge zu machen und diese dann umzusetzen. Die FPÖ ist eine Partei, die destruktiv ist, grundsätzlich wenig von der Europäischen Union hält und somit auch nicht auf europäische Lösungen setzt. Bei der FPÖ habe ich immer das Gefühl, dass sie Probleme anspricht, ausschließlich um sie zu plakatieren, aber ohne jeglichen Willen, sie zu lösen. Ich bin klar proeuropäisch und weiß nicht, ob das die FPÖ so von sich behaupten würde.

In der Flüchtlingsfrage trete ich für mehr Hilfe vor Ort und legale Wege nach Europa in einem zahlenmäßig vertretbaren Ausmaß ein. Beide Forderungen habe ich so von der FPÖ noch nie gehört. Sie will nicht intensiv in humanitäre Hilfe vor Ort investieren. Und ich kann mich nicht erinnern, dass die FPÖ je für die Einrichtung legaler Wege für Flüchtlinge nach Europa eingetreten ist.

Ich verstehe nicht, warum man nicht auf sachlicher Ebene festhalten kann, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Zugänge zu Problemen haben. Bitte akzeptieren Sie, dass ich die Positionen vertrete, die ich für richtig halte, ganz gleich, ob diese mit der FPÖ oder den Grünen übereinstimmen oder nicht.

STANDARD: Nicht zuletzt deshalb läuft gerade die Debatte darüber, ob Sie Mitterlehner als ÖVP-Obmann ablösen wollen. Genauer betrachtet: Geht es dabei im Kern nicht eher darum, wer der Kanzlerkandidat bei der nächsten Nationalratswahl werden wird? Wollen Sie das werden?

Kurz: Es geht darum, meine derzeitige Aufgabe bestmöglich zu erfüllen. Es geht vor allem darum, dass die Regierung etwas weiterbringt für Österreich und wir nicht ständig über Meinungsumfragen, irgendwelche Koalitionen und Personen diskutieren. Ich habe eine Tätigkeit, die mir extrem wesentlich erscheint und bei der ich genug zu tun habe, wobei ich vieles von dem, was ich für richtig erachte, auch durchsetzen möchte.

STANDARD: Also, was ist die Conclusio? Schluss der Debatte über Parteiführung und Kanzlerkandidatur?

Kurz: Ich finde, dass die Regierung extrem viel zu tun hätte und gut beraten wäre, endlich zu handeln. Sämtliche Koalitionsdiskussionen und Personaldebatten lenken vom Wesentlichen ab, und das sollten wir uns ersparen.

STANDARD: Also Schluss der Debatte?

Kurz: Mir wäre es recht, wenn sie nicht weiterläuft. Insofern ein klares Ja. Besser ordentliche Arbeit als ständig wiederkehrende Diskussionen und Debatten. (Thomas Mayer, 3.9.2016)