Wien – Nicht alles, was möglich ist, ist auch vorstellbar – und das betrifft nicht nur fantasielose Menschen. Es betrifft uns alle und am deutlichsten wohl in Bezug auf die technische Entwicklung. Viel häufiger aber müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass nicht alles, was wir uns vorstellen, auch möglich ist. Oft hapert es an dessen Realisierbarkeit, und zwar schon an den rationalen Möglichkeiten dazu ...

Juristen verfügen über einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn, das hat schon Robert Musil gewusst. Er hat dem weltoffenen Möglichkeitssinn seines Helden, des "Mann ohne Eigenschaften", den geschlossenen Wirklichkeitssinn dessen Vaters – eines bedeutenden Juristen – gegenübergestellt. Er hat gezeigt, wie Juristen mit der ins Mögliche ausufernden Wirklichkeit reduktiv umzugehen pflegen und wie sie alle Möglichkeiten in die logisch geschlossenen Sphären einer faktischen Wirklichkeit heimzuholen bemüht sind.

Positiver Rechtspositivismus

Nun sollten wir diese Bemühungen der Juristen um Eindeutigkeit nicht geringschätzen. So hat gerade der Rechtspositivismus Wesentliches zur Etablierung demokratischer Rechtsstaatlichkeit beigetragen. Unter ihm wurden die Prinzipien der juridischen Beweisführung und Begründung ausdifferenziert – und das durchaus im Bewusstsein der Stärken und Schwächen der demokratischen Rechtsetzung. Das hat auch der "Vater unserer Verfassung" Hans Kelsen in seiner Schrift Vom Wesen und Wert der Demokratie deutlich zum Ausdruck gebracht. Und wie der Positivismus generell, so ist auch Kelsen in seinen Überlegungen von Faktizität und objektiver Nachweisbarkeit sowie von größtmöglicher spekulativer Zurückhaltung geleitet. Diese Haltung des Positivismus ist aber nicht nur seine Stärke, sie stellt zugleich auch eine Schwäche dar. So wurde diese Haltung ob ihrer Rationalitätsversessenheit selbst als illusionär kritisiert – und das nicht zuletzt von Robert Musil. Trotzdem aber ist die Funktionalität der rechtspositivistischen Praxis anzuerkennen und in der Ermangelung eines Besseren zu würdigen.

Hat also der juridische Wirklichkeitssinn mit seinen in Kausalität gefassten Tatsachen keine grundsätzlichen Probleme, zu logisch zwingenden Schlüssen zu gelangen, so sieht dies in den (an sich offenen) Bereichen des bloß Möglichen – und dessen eingangs erwähnter mangelnder Fassbarkeit – anders aus. Mittels rein logischer Verfahren kann hier zwar festgestellt werden, was unter gegebenen Umständen unmöglich ist, eine Gesamtheit des Möglichen kann damit aber nicht erfasst und überprüft werden.

So ist es gewiss auch eine Ironie der Geschichte, dass sich (der an logisch darstellbaren Fakten orientierte) Kelsen 1927 – vermutlich zum Schutz der noch nicht gefestigten Demokratie – dazu veranlasst sah, die Wahlordnung, wie sie die Verfassung vorschreibt, durch eine Erweiterung der juridischen Relevanz bis in die Bereiche des (auch nur) Möglichen zu sichern – sprich die auf Verfehlungen beruhende bloße Möglichkeit eines verzerrten Wahlergebnisses mit Wahlwiederholung zu ahnden. Und bekanntlich war und ist es seither in Österreich gängige Rechtspraxis, bei jeder auch nur vorstellbaren Auswirkung auf ein Wahlergebnis die Wahl zu wiederholen: im Zweifel für die Wiederholung.

Wenn wir uns aber mit unseren Kalkulationen im Bereich des bloß Möglichen bewegen und damit im Gebiet der unabschließbaren, der offenen Kontexte operieren müssen: Kann dann solch ein Zweifel jemals völlig ausgeräumt werden? In der Praxis wohl kaum, und offenbar war das auch für Kelsen im Erkenntnis von 1927 ausschlaggebend. Er hat dem zuständigen Verfassungsgerichtshof nicht nur einen Ermessensspielraum eingeräumt, er hat den VfGH zu eigenem Ermessen – und damit zur genauen empirischen Überprüfung der jeweiligen konkreten Situation – aufgefordert.

In der derzeitigen Situation der Bundespräsidentenwahl ist aber gerade dieser Punkt nicht erfüllt. Der VfGH hat es verabsäumt, sein eigenes Ermessen – wenn man es denn so nennen kann – durch eine entsprechende empirische Prüfung zu untermauern. So auch die Kritik prominenter Juristen, allen voran Heinz Mayer. Stattdessen hat sich der VfGH damit zufriedengegeben, die empirisch evaluierbaren (und damit immerhin falsifizierbaren) Möglichkeiten mit allem auch nur "theoretisch" Vorstellbaren gleichzusetzen. De facto hat er mit dieser Gleichsetzung alle Versuche, sich mit empirischen Mitteln den Problemen zu nähern, von vornherein ignoriert. Indem er sich so in seinem Ermessen formal hinter einen Generalverdacht des "Alles ist möglich" zurückzog, konnten der VfGH und die von ihm ausgeübte Rechtsprechung "rein" bleiben und musste der VfGH nicht mit so etwas wie Wahrscheinlichkeiten argumentieren.

Fast ein Jahrhundert nach Musils Roman scheint also die österreichische Rechtsprechung einen eigenen Möglichkeitssinn zu entwickeln – allerdings einen kaum differenzierten und nur, um sich nicht weiter mit den Möglichkeiten und deren Realisierbarkeit konkret auseinandersetzen zu müssen. Am einfachsten ist es nämlich, alle Unkorrektheiten einer Wahl von vornherein als möglicherweise ergebnisbeeinflussend anzusehen und sich einer verantwortungsvollen empirischen Prüfung zu enthalten. Im Endeffekt kann damit – und bei entsprechender Fantasie – so gut wie jede Wahlbeschwerde über jegliche Nachlässigkeiten mit Neuwahlen beantwortet werden – ein potenziell unendliches Spiel ... Einen derart paradoxen Erfolg seines Romans hätte sich Robert Musil wohl nicht träumen lassen. (Peter Moeschl, 6.9.2016)