Wien – Österreich und die Türkei sind "in eine Phase eingetreten, wo man sich wehtun möchte", erklärte der bisherige österreichische Wirtschaftsdelegierte in Ankara, Konstantin Bekos, am Mittwoch in Wien. Die Nerven lägen in beiden Ländern blank. Jede weitere Eskalation wäre aber zum Schaden beider Länder.

Das vorzeitige Aus für das österreichische Grabungsteam in der antiken Weltkulturerbestätte Ephesos nahe Izmir ist der aktuelle Tiefpunkt einer zunehmend zerrütteten Beziehung zwischen der Türkei und Österreich. Mehrere österreichische Firmen sind bereits um öffentliche Großaufträge am Bosporus umgefallen.

Der Grabungsstopp der Archäologen auf Anweisung des türkischen Kulturministeriums sei eindeutig als "Retourkutsche" zu verstehen, sagte Bekos. Wenn der raue Ton anhalte, könnten die Beziehungen dauerhaft geschädigt werden, fürchtet er. Die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen der beiden Länder reichten historisch weit zurück und gingen tief. Diese langjährigen Beziehungen könnten jetzt "in einigen Bereichen in die Brüche gehen".

140 österreichische Unternehmen

Rund 140 österreichische Unternehmen seien derzeit vor Ort aktiv, einige schon seit Jahrzehnten. Darunter zahlreiche Firmen, die als Zulieferer für die Bauindustrie agierten. "Wir waren bei allen Großprojekten dabei", erklärte Bekos. Ein Großteil der Wasserkraftwerke in der Türkei seien mit österreichischer Beteiligung entstanden. Aktuell seien österreichische Firmen etwa beim Bau des dritten Istanbuler Flughafens und dem Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes für die Bahn eingebunden. Sie hätten auch am Bau des "Jahrhundertprojekts" Marmaray, der Untertunnelung des Bosporus, mitgewirkt.

Im Vorjahr hat das österreichische Außenhandelsvolumen fast drei Mrd. Euro erreicht. Die heimische Wirtschaft hat 2015 Waren im Wert von 1,4 Mrd. Euro an den Bosporus geliefert und Waren im Wert von 1,46 Mrd. Euro eingeführt. Im ersten Quartal 2016 hingegen waren die Exporte heimischer Unternehmen in die Türkei um fast 13 Prozent rückläufig, bei gleichbleibenden Importen.

Aus Österreich flossen in den Jahren 2002 bis 2015 rund 4,5 Mrd. Euro an Direktinvestitionen. Heimische Firmen waren 2009 bis 2011 sogar größter Investor des Landes. Mittlerweile will der heimische Erdölriese OMV seine türkische Tochter Petrol Ofisi abstoßen, was aber weniger der politischen Situation in der Türkei geschuldet sei als dem Tiefstand bei den Ölpreisen am Weltmarkt, so Bekos. Aktuell rät der Wirtschaftsdelegierte heimischen Unternehmen, sich aus der Politik herauszuhalten und die Entwicklungen genau zu beobachten.

Zerreißprobe

Die innenpolitische Zerreißprobe, der zerbrochene Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, der Syrienkrieg, die Fluchtbewegungen der Syrer in die Türkei – und weiter nach Europa – habe die Türkei zermürbt. Hinzu kam die mangelnde Reaktion der Europäer auf den Putschversuch am 15. Juli. "Die Türkei fühlte sich im Stich gelassen", schildert der Delegierte die Wahrnehmung im Land am Bosporus. Die Folgen seien fatal, sowohl für die Beziehungen mit der Europäischen Union als auch für die Türkei selbst.

Die eingeleitete "Säuberung" nach dem versuchten Coup erfasst mittlerweile beinahe alle gesellschaftlichen Bereiche in der Türkei. Die Regierung in Ankara führt einen Rundumschlag gegen die als Putschisten gebrandmarkte Gülen-Bewegung aus und entlässt Richter, Militärs, Staatsbedienstete, zigtausende Lehrer. Akademikern und Beamten ist es verboten, das Land zu verlassen.

Auch mehr als dreitausend Firmen wurden unter "Aufsicht" gestellt. Was mit der Zerschlagung der Bank Asia – sie stand dem Gülen-Netzwerk nahe – begann, hat nach dem 15. Juli weitere Kreise gezogen. Selbst die Boydak-Holding, eine der Top-500-Firmen der Türkei nach Forbes, geriet ins Netz der Fahnder. Ein "Reinigungsprozess", der als Säuberung innerhalb der regierenden AKP (bereits Ende 2013, Anm.) ihren Ausgang nahm, so Bekos.

Dennoch sieht der Wirtschaftsdelegierte die EU-Perspektive der Türkei weiter als wichtig an. Für beide Seiten. "So viele essenzielle Kapitel wurden bisher nicht einmal eröffnet." Die Türkei brauche und suche den Anschluss nach Europa. Die Forderung nach Visafreiheit sei mittlerweile eine "Frage der Ehre" für die Türkei geworden. (APA, 7.9.2016)