Downtown Toronto gleicht einem Schachbrett. Während des Filmfestivals, in der Stadt kurz Tiff genannt, wird das Muster noch von um ganze Häuserblöcke verlaufenden Menschenschlangen verstärkt. Das sind die Rush-Lines für all jene, die noch eine letzte Karte ergattern wollen. Das größte Filmfestival Nordamerikas verfügt über etliche parallel bespielte Schienen, aber keinen zentralen Wettbewerb. Manchmal entsteht jedoch ein "Buzz" – das Surren der Begeisterung um einen Film, der aus allen anderen herausragt.

Trauer darf in diesem Film in auch komisch sein: Casey Affleck kehrt als schweigsamer Antiheld in Kenneth Lonergans "Manchester by the Sea" nach New England zurück.
Foto: Tiff

Einer davon ist Kenneth Lonergans Manchester by the Sea, der bereits als ernsthafter Oscar-Anwärter gilt. Lonergans erst dritter Film vollbringt etwas sehr Seltenes: Er findet eine schier unmögliche Balance aus komischen und tragischen Tonarten. Lee Chandler (Casey Affleck) spielt einen schweigsamen, ungeselligen Antihelden, Installateur von Beruf, der seine Arbeit wie einen Strafdienst ableistet. Die Vergangenheit wird in diesen unspektakulären Alltag unmittelbar eingeschoben, als gäbe es keine linear verlaufende Zeit. Die Erinnerung blockiert jede Bewegung, Nachwirkung einer Tragödie, die der Film nach und nach freilegt. Manchester by the Sea ist überragend inszeniert und geschrieben. In einer überschaubaren Geschichte entdeckt Lonergan nur durch die spezifische Note seines Blicks ungewöhnliche Winkel und widersprüchliche Gefühle.

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Als sein Bruder stirbt, kehrt Lee an den kleinen Küstenort in New England zurück. Das Sorgerecht für den 16-jährigen Sohn (Ben O'Brien) will er nicht annehmen. Mit der Verantwortung wird die richtungslose Zukunft jedoch wieder verhandelbar. Lonergan beschreibt ein Ringen, ein Aufeinander-Zu- und Auseinander-Gehen, das die Starrheiten langsam lockert. Seit Ang Lees Der Eissturm hat es keinen besseren Film über die US-amerikanische Familie gegeben.

Vom Leben in Montana

Kelly Reichardt hat bereits in Filmen wie Wendy and Lucy demonstriert, dass sie dem Innenleben ihrer Figuren wie auch Lebensrealitäten mit einem Kino der genauen Beobachtung nahekommt. In Uncertain Women verknüpft sie drei Erzählungen von Maile Meloy zu einem Film über kleine Unebenheiten im Dasein, über eingeschliffene Muster und Sehnsüchte, die sich nicht erfüllen lassen. Dafür hat sie ein großartig nuanciert spielendes Ensemble zur Verfügung, zu dem Michelle Williams, Kristen Stewart und Laura Dern gehören.

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Das Verbindende der Episoden ist der ländliche Raum von Montana, dessen Horizont die Berge einrahmen. Pointiert verankert Reichardt darin die Geschichte einer Anwältin (Dern), die sich mit einem Klienten (Jared Harris) herumschlägt, einer ernüchterten Ehefrau (Williams) und einer jungen Native American (Lily Gladstone), die sich in eine Vortragende (Stewart) verliebt. Reichardt ist eine Meisterin solcher Skizzen, die von unauffälligen, aber reichhaltigen Gesten, von ihren Zwischentönen leben.

Auch Österreich ist in Toronto mit Filmen von Ruth Beckermann, Urich Seidl, Tizza Covi und Rainer Frimmel, Björn Kämmerer sowie Antoinette Zwirchmayr gut vertreten. Der Salzburger Lukas Valenta Rinner präsentierte mit Los Decentes seinen zweiten Spielfilm. In statischen Einstellungen mit viel lakonischem Witz folgt er der schüchternen Belén (Iride Mockert) zu ihrem neuen Arbeitsplatz, einer Gated Community wohlhabender Leute, die an das Camp einer Nudistengemeinde grenzt: zwei Welten mit Eigengesetzlichkeiten und unterschiedlichen Limitierungen. Bis zur Eskalation bleibt viel Zeit für skurrile Beobachtungen. (Dominik Kamalzadeh, 14.9.2016)