Wer braucht schon die Schwerkraft, wenn er dafür die Liebe haben kann? Eben. Zumindest im "Club Panamur" des Steirischen Herbstes sind alle Grenzen aufgehoben.


Foto: Georg Klüver-Pfandtner, Stefan Beer

Graz – Die klangliche Verwandtschaft zwischen der Liebe auf Französisch und dem Grazer Stadtfluss kann kein Zufall sein. Ob nun aber "Mur" eine Verkürzung von "amour" ist? Oder ob die Liebe nach dem Gewässer benannt wurde? Wer weiß! So, um nun alle wortherkunftskundigen Leser gleich zu beschwichtigen: Eh hat das steirische Liebeswortspiel keinerlei Halt in der Wirklichkeit, eh ist der Name "Mur" ungarischen Ursprungs.

Aber manchmal muss man halt auch kreuz- und querdenken, gegen alle Logik. Gelegentlich darf man ganz dem Sound der Worte, ihrer bloßen Sinnlichkeit folgen, Grenzen überschreiten – wie es gerade die Liebe und Flüsse oft tun. Und wie es jene Veranstaltung tut, die den Mur-l'amour-Schmäh beim diesjährigen Steirischen Herbst auf das nächste Level hebt: der Club Panamur im Grazer Orpheum.

Allumfassende Liebe

Elf Festivalnächte mit Konzerten und DJs widmet man dort Versuchen zur "allumfassenden Liebe" auf musikalischer Basis. Ganz im Sinne des übergeordneten Herbstmottos, der Verschiebung kultureller Kartografien, soll gehörig an den Grenzen gerüttelt werden: "Jenseits der Genreschubladen" will man auf "hybride Musikformen" und die "Vermischung von Sounds, Genres und Arbeitsweisen" fokussieren.

Alles soll fließen, quasi. Und dazu gehört von Anfang an auch der Schweiß: Zum Eröffnungsact des Club Panamur erkor man die Band Kuenta i Tambu. Mit dicken Beats à la M.I.A. zeigt das Quintett, dass wir Menschen zumindest in der Magengrube alle circa gleich sind.

Zu diesem Behuf holen die Amsterdamer den Sound des Tambú in ihre elektroniklastigen Arrangements. So nennt sich ein auf der karibischen Insel Curaçao gebräuchliches Schlaginstrument respektive ein Musikstil. Aus dem Papiamento, gesprochen in den Niederlanden und auf Curaçao, stammt auch der Bandname, der sich mit "Geschichten und Trommeln" übersetzen lässt.

Geschichten stellt auch Pål Moddi Knutsen in den Mittelpunkt. Der norwegische Singer-Songwriter präsentiert mit seinem aktuellen Album Unsongs zwölf verbotene Lieder aus ebenso vielen Ländern: Songs, die irgendwann zensuriert wurden, sei es in Russland, Mexiko oder Palästina. Schlimmstenfalls wurden jene, denen Moddi dabei seine Stimme gibt, nicht nur aus dem Radio verbannt wie Kate Bush für ihren Antikriegssong Army Dreamers. Die Liedermacher Victor Jara und Matoub Lounès mussten ihre Bemühungen um die Anerkennung der kabylischen Identität in Algerien mit dem Leben bezahlen.

Verfremdete Buschenschank

Ausgelassener Tanz und bitterer Ernst – im Club Panamur kommen Gegensätze zusammen. Platz ist dort indes auch für das Kollektiv Heterocetera aus dem Dunstkreis des Berliner Labels Janus oder für den Cold Wave der Group A aus Tokio. Diversität heißt die Devise im "Pop-up-Retreat", wie der Club auch genannt wird.

Die passende, queere Architektur gestalteten der Künstler Georg Klüver-Pfandtner und der Architekt Stefan Beer. Durch gezielte Eingriffe in die Räume des Orpheums wollen sie dieses anders erlebbar machen. So betritt man die Tanzfläche, gestaltet im Stile eines New Yorker Ballrooms der 1980er, nun etwa nicht durch einen Haupteingang, sondern durch eine Notausgangstür.

Dorthin gelangt man über eine riesige Zunge, die einen eine Etage tiefer bei der Murwirtin einsaugt: In einer im Eingangsbereich installierten Buschenschank, deren Pergola-Ästhetik durch muschelverzierte Weinreben verfremdet ist, aber auch durch schwebende Hawaii-Toasts, Spiegeleier, Fische. Das große Fließen beginnt schon bei der Murwirtin. (Roman Gerold, Spezial, 16.9.2016)