Maria Schrader tritt in zitronengelber Bluse und dunkler Hose durch die Tür des Diekmann. Das Restaurant nahe dem Kurfürstendamm in Berlin hat sie bewusst gewählt. Hier hat sie ihren Deal für die Verfilmung des Bestsellers "Liebesleben" vor beinahe zehn Jahren besiegelt, gleich um die Ecke hat sie vor 20 Jahren gewohnt. Schrader ist inzwischen nicht nur prämierte Schauspielerin, sie schreibt auch Drehbücher und führt Regie. Mit Erfolg: Soeben ist ihr Film über Stefan Zweig, "Vor der Morgenröte", als österreichischer Beitrag für den Oscar nominiert worden.

STANDARD: Frau Schrader, seit einiger Zeit wohnen Sie nicht mehr nur in Berlin. Warum haben Sie sich für Hamburg entschieden?

Maria Schrader: Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben fest angestellt – am Schauspielhaus Hamburg.

STANDARD: Herzlichen Glückwunsch!

Schrader: Ein exotischer Schritt für mich, wie eine erste Ehe, eine tolerante allerdings. In der letzten Saison habe ich bereits "Vor der Morgenröte" zwischendurch gedreht.

STANDARD: Der Film über das Exil von Stefan Zweig.

Schrader: Ich möchte weiterhin Regie führen, schreiben, vor der Kamera stehen. Aber Theater ist in den vergangenen Jahren auch ein essenzieller Bestandteil geworden, eine Zeit lang habe ich ein wahres Bühnen-Hopping betrieben, Köln, Berlin, Hamburg. Und dann ergab sich dieser Neuanfang mit Kollegen, von denen ich viele bereits kannte. Da trat Entspannung ein. Als Gast ist man immer ein Satellit, der sich in bestehende Strukturen einfügen muss. Jetzt bin ich Mitglied eines Ensembles, und es gibt eine heimatliche Bühne, die schönste übrigens.

Maria Schrader fotografiert von Stefan Armbruster. Mantel: Dolce & Gabbana, Pulli: Miu Miu, Hose: Emporio Armani, Schuhe: Shoepassion.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Haben Sie mit der deutschen Hauptstadt gebrochen?

Schrader: Nein, im Gegenteil. Ich bin ein Exemplar der seltenen Spezies von glücklichen Pendlern, ich finde es schön, zwei Wohnsitze zu haben. Ich betrachte Berlin mit neuen Augen. Ich lebe dort seit 1986, zuerst Charlottenburg, seit 1995 in Prenzlauer Berg – mit 30 zum ersten Mal allein in einer Wohnung. Davor zehn Jahre in einer Wohngemeinschaft, einer besonderen allerdings.

STANDARD: Inwiefern?

Schrader: Es war mehr ein Lebensmodell als eine Zweckgemeinschaft. Als ich einzog, teilten sich 14 Bewohner sieben Zimmer. Verschiedene Generationen, fast alles Theater- und Filmleute. Leben und Arbeit vermischten sich in größtmöglicher Schnittmenge, die Arbeit intensivierte die Beziehungen, das Zusammenleben inspirierte die Arbeit. Es war ein echter Bahnhof. Ich glaube, in den zehn Jahren, in denen ich dort wohnte, zogen etwa vierzig Leute ein und wieder aus.

STANDARD: Klingt nach einem ruhelosen Leben.

Schrader: Die Wohnung war ein Magnet, für Freunde, Mitarbeiter, Gäste auf Besuch. Platz gab es immer, von einigen Partys ist noch heute die Rede. Zum Schreiben haben Dani Levy und ich Berlin allerdings meistens verlassen.

Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader in einer Kragenbluse von Bally, die Hose ist von Emporio Armani.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Mit dem Regisseur und Schauspieler waren Sie fast zehn Jahre liiert. Für "Robbykallepaul" haben Sie 1988 Ihre Wohngemeinschaft zum Drehort gemacht.

Schrader: Die Räume dieser Wohnung wurden vielfach transformiert. Nicht nur, als wir dort wohnten. Bis in die 1930er-Jahre gehörte sie einer jüdischen Arztfamilie, bevor sie nach Palästina flüchten musste. Der Schauspieler Alexander Cranach ging bei ihnen ein und aus, wir haben seinen Sohn kennengelernt, den Schriftsteller Gad Cranach. Er berichtete uns, dass Albert Einstein zu den Gästen gehörte, bei Hauskonzerten Geige spielte. In den 1970er-Jahren stand die Wohnung dann unter Beobachtung, weil sie als Unterschlupf der zweiten RAF-Generation galt. Die Geschichte dieser Wohnung spiegelt ein ganzes Jahrhundert wider. In Prenzlauer Berg befand ich mich dann plötzlich in einer Situation, an die ich mich nur schwer gewöhnen konnte.

STANDARD: Warum?

Schrader: Weil ich nie eine Person sein wollte, die allein 100 Quadratmeter bewohnt. Es fühlte sich verschwenderisch an, zugleich abgeschnitten, angekommen im Gefängnis des Erwachsenendaseins – ein gut verdienender Single.

STANDARD: Sie haben es doch selbst gewählt.

Schrader: Na ja, die WG hat sich mit der Trennung von Dani Levy aufgelöst. Am Ende haben wir dort nur noch zu viert gelebt. Glücklicherweise hat die Wohnung ein befreundeter Künstler übernommen. Er lebt dort im Moment mit einem Mann, der aus Syrien geflohen ist.

Mantel und Jumpsuit von Brunello Cucinelli, Lederhandschuhe von Roeckl, Handtasche von Prada, Stiefletten von Christian Dior.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Finden Sie noch Ihre Spuren dort?

Schrader: Eine sandfarben bemalte Wand. Ansonsten ist es eher der Geist, die Atmosphäre, in der ich mich nach wie vor zu Hause fühle. Wir konnten im Nullkommanichts die Zimmer aus- und umräumen, um ein Produktionsbüro zu installieren, einen Drehort, einen Partyraum. Es gab keinen Besitz, den man bewachen oder beschützen wollte. Niemand musste Pflanzen gießen, den Hund ausführen, eine Alarmeinlage einbauen, weil allein der Teppich 7000 Mark kostete.

STANDARD: Ihnen war Ästhetik egal?

Schrader: Noch nie. Ich fühle mich überhaupt nicht überall wohl. Ich mag Provisorien, am liebsten, wenn sie lange halten. Ich lebe auch in Hamburg so. Übrigens wieder in einer WG, ohne nennenswerten Besitz. Ich habe einen Widerwillen gegen die Manifestation von Sesshaftigkeit und Sicherheit.

STANDARD: Wann macht der sich bemerkbar?

Schrader: Wenn ich merke, etwas ist für die Ewigkeit bestimmt, kriege ich Atemnot. Natürlich nicht im Louvre, nicht im Kölner Dom. Öffentliche Gebäude sollten mit größtmöglichem Aufwand und architektonischem Mut für viele Jahrhunderte konzipiert werden, damit sich die Menschheit von sich selbst beschenkt fühlt. Aber private Behausungen? Als würde man mit dem Bau eines Eigenheims gegen die eigene Sterblichkeit ankämpfen.

STANDARD: Wollen Sie das nicht?

Schrader: Doch! Ich kann mir nur kein anderes Leben vorstellen als in Räumen, in denen schon Generationen vor mir waren und nach mir kommen werden. Wir sind Durchreisende, es hilft ja nichts. Ich wollte noch nie ein Haus bauen, ich will wegkönnen, wiederkommen können, ohne großen Aufwand. Das ist für mich Luxus. Im Hotel Sacher für das RONDO-Shooting sitzen, eine Suite für ein Foto ausräumen, diese Mäntel tragen, diese Schuhe! So kämpft man gegen die Sterblichkeit.

Ein Zweiteiler ist von Brachmann Menswear, die Halskette von Cartier.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Wie bitte?

Schrader: Ach, nehmen Sie mich bloß nicht zu ernst. Ja, ich habe Spaß an Kleidern. Ich weiß noch, als das erste Mal ein Designerkleid für mich angepasst wurde. Das war für die Eröffnung der Berlinale mit Aimée und Jaguar, Juliane und ich schaute in den Spiegel ...

STANDARD: ... der Film erzählt von einer lesbischen Beziehung im Dritten Reich, Juliane Köhler und Sie erhielten bei der Berlinale 1999 den Silbernen Bären als beste Darstellerinnen ...

Schrader: ... wir standen in der Garderobe bei Armani – jede der unzähligen Perlen war mit der Hand aufgenäht worden, und ich wusste, ich habe gerade einen Kleinwagen an. So viel kostete das Kleid. Das fand ich so absurd wie anziehend.

STANDARD: Auch aufregend?

Schrader: Ja klar. Ich habe bewusst miterlebt, wie der Glamour im deutschen Film Einzug hielt. Meinen ersten Bundesfilmpreis habe ich erhalten, als die Verleihung erstmals keine Verschwitzte-Lederjacken-Veranstaltung mehr war, sondern im Berliner Friedrichstadtpalast gefeiert wurde.

STANDARD: Das war 1995 für die Filme "Keiner liebt mich", "Einer meiner ältesten Freunde" und "Burning Life".

Schrader: Das erste Mal gab es einen roten Teppich. Ich habe mir zu diesem Anlass einen blauen Seidenanzug für 2000 Mark schneidern lassen. Mit zwei verschiedenen Westen und einem Kragen mit Marabufedern, den ich hineinknöpfen konnte. Ich erinnere mich, dass die ganze Reinhardtstraße, die zum Palast führte, eine einzige Baustelle war, die halbe Stadt war damals Sanierungsgebiet. Auf hohen Hacken bin ich durch den Schutt gestolpert, eine Gang von sechs oder acht Freunden um mich herum. Die habe ich alle mitgenommen, wäre heute gar nicht mehr möglich. Da gibt es höchstens eine Begleitperson – und nur, wenn man nominiert ist.

STANDARD: Bevor Sie auf der Leinwand Erfolg hatten, absolvierten Sie Ihre Ausbildung zur Schauspielerin in Wien ...

Schrader: ... an meinem 18. Geburtstag wurde ich am Max-Reinhardt-Seminar aufgenommen.

Blusensweater von Véronique Leroy, Stoffhose von Emporio Armani, Ring Panthère von Cartier, Stiefletten von Hermès.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Zuerst haben Sie in der Pension "Franz" gewohnt.

Schrader: Stimmt, hinter der Votivkirche. Ich habe mir nie wieder die Mühe gemacht, die Währinger hochzulaufen, aber die Pension gibt es heute noch. Eine alte, etwas dunkle Beletage mit großen Ölgemälden. Meine Mutter hat mir 400 Mark in die Hand gedrückt, nach einer knappen Woche in der Pension zog ich ins Souterrain eines fast legendären Hauses: Penzinger Straße 58. Es gab nur kaltes Wasser, geduscht wurde in der Schule. Auf allen Etagen lebten Seminaristen, ein Haus mit Aufstiegschancen, man wohnte sich nach oben. Wer das Diplom hatte oder ein Engagement bekam, zog aus, die anderen rückten nach. Im zweiten Jahr war ich im ersten Stock mit Blick auf die Bäume und einem Durchlauferhitzer.

STANDARD: Haben Sie oft die Wiener Kaffeehäuser besucht?

Schrader: Wir wussten, dass Thomas Bernhard im Bräunerhof schrieb. Ich bin manchmal vorbeigelaufen, gesehen habe ich ihn nie. Das Landtmann war irgendwie tabu, da trafen sich die Stars, darunter unsere Lehrer. Sich da rumzutreiben war peinlich. Wir waren öfter im Drechsler. Es hatte die ganze Nacht geöffnet. Aber eigentlich kann ich mich nicht an Momente erinnern, in denen ich mich fragte, was ich jetzt mit meiner freien Zeit anstellen könnte. Das Seminar war durchgeschult von morgens um acht bis zum Abend. Danach ging es nach Hause oder zum Chinesen gegenüber. Klar, ich fand es auch schön, manchmal im Demel teure Pralinen zu kaufen, "Mätressengeschenke" für meine Mutter und meine Schwestern, am Wochenende durch die Innenstadt zu spazieren.

STANDARD: Und dabei die Stadt in vollen Zügen entdeckt?

Schrader: Wien war anders als jede Stadt, die ich bis dahin gesehen hatte. Ich bin in Hannover aufgewachsen, ich kannte Berlin, beides kriegsverwüstete Flickwerke, da war Wien in seiner unangetasteten Pracht so beeindruckend wie museal. Ich mochte Schönbrunn im Winter, die Absturzkneipen um den Naschmarkt, den Westbahnhof und die Ratten an den Gullis, wenn ich im Morgengrauen aus dem Nachtzug stieg.

STANDARD: Wo kamen Sie denn da her?

Schrader: Aus dem Theater in Hannover. Dort spielte ich in einem Stück, schon bevor ich in Wien angenommen wurde, mit Profis. Ich fühlte mich sehr erwachsen. Nach der Vorstellung noch einen überbackenen Camembert in der Kantine, dann in den Zug und morgens mit Augenringen vom Bahnhof direkt in die Schule. Auf sehr hohen Schuhen, versteht sich. In diesem ersten Winter habe ich mir zwei Paar an einem Tag gekauft.

Maria Schrader in einer Bluse von Barbara Bui Vintage, Stoffhose von Brunello Cucinelli, Ohrringe Love von Cartier.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Ist ja unerhört.

Schrader: Es klingt lächerlich, aber man kann sich nicht immer aussuchen, welche Momente im Gedächtnis bleiben. Die zwei Paar Schuhe sind mir unvergesslich, sie bedeuteten ein Schritt über irgendeine Schwelle. Dekadent, unvernünftig, und niemand da, der mich abhält. Die Freiheit war begleitet von Herzklopfen und Rauschen in den Ohren.

STANDARD: Gab es die auch im Studium?

Schrader: Das erste Stück, das ich in Wien sah, war Ein Sommernachtstraum mit Sophie Rois als Titania, sie war im Jahrgang über mir. Es hatte sich eine freie Gruppe aus Studierenden formiert, Regisseure und Schauspieler, und ich wollte mitmachen. In Berlin gab es Anfang der 1980er-Jahre längst die freie Szene, in Wien war das neu. Wir waren die Ersten, die in der Arena Theater spielten, und sorgten für Aufsehen, die Wiener Festwochen luden uns ein. Die Arena, ein ehemaliger Schlachthof, liegt hinter dem Autobahnkreuz im dritten Bezirk, in dieser Zeit eine wilde und teilweise unbebaute Gegend, die Berlin wohl so nahekommt, wie Wien der Stadt nahekommen kann. Ich habe dieses selbstständige Arbeiten, diesen Gegensatz zum höchst gepflegten Seminar und der Aufsicht der Professoren sehr genossen.

Wintermantel von Miu Miu.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Berlin war für Sie 1986 dann die logische Fortsetzung dieser Erfahrung?

Schrader: Ich wollte sowieso nach Berlin. Als Schülerin bin ich öfter da gewesen, hatte Freunde dort. Nach Ostberlin fuhr ich das erste Mal allein, mit 16 wahrscheinlich. Der Tränenpalast am Übergang Friedrichstraße, Schritt für Schritt in der Schlange vorwärts, ein Zwölf-Stunden-Visum, diese diffuse Nervosität, einen von Totalitarismus regierten Boden zu betreten, gleichzeitig die Anziehungskraft, die Ostberlin auf mich ausübte. Ich wollte zum Brecht-Haus und Noten kaufen, habe mich danach verlaufen, und noch heute denke ich jedes Mal an der Ecke Veteranen- und Brunnenstraße daran, wie orientierungslos ich dort herumstand, wie dunkel es am Abend war. Jahre später, in Jerusalem, habe ich erst begriffen, dass dort wie in Ostberlin die Werbetafeln und erleuchteten Schaufenster fehlten, wie sehr eine Stadt vom Kommerz erhellt wird.

STANDARD: Israel ist ein Sehnsuchtsort von Ihnen, seit Sie als Teenager an einem Schüleraustausch teilgenommen haben.

Schrader: Jeder Ort, an den es mich in diesem Sommer verschlagen hätte, wäre ein Sehnsuchtsort geworden. Ich habe an einem Programm für Jugendliche teilgenommen, verschiedenste Kunstkurse, es war der erste Sommer ohne Eltern, die erste Berührung mit Theater, das erste Mal Kiffen ...

STANDARD: ... der erste Kuss?

Schrader: Leider nein. Ich habe mich zwar sehr verliebt, das beruhte aber nicht auf Gegenseitigkeit. Meine erste ernst zu nehmende Beziehung war erst Jahre später mit Dani Levy. Dass auch er Jude ist, wurde mir eigentlich erst durch die Begegnung mit seiner Mutter deutlich, die als Kind aus Berlin geflüchtet war, in der Schweiz lebte und anfänglich damit zu kämpfen hatte, dass ihr Sohn wieder nach Berlin gegangen war und jetzt auch noch eine Freundin hatte, die Maria hieß und katholisch war.

Mantel von Bally, Oberteil von Max Mara, karierte Hose von Brunello Cucinelli, Stiefletten von Bally, Perlenarmreif von Yana Naesper.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Dabei haben Sie sich selbst einmal als "Jüdin vom Dienst" bezeichnet.

Schrader: Das war höchstens eine Kritik an einem gewissen Schubladendenken, aber nicht an den Rollen, die ich spielte. Filme wie Aimée und Jaguar oder Rosenstraße wurden mir bestimmt auch angeboten, weil ich aussehe, wie ich aussehe. Als der Berlin-Verlag überlegte, welche Schauspielerin richtig wäre, um eine israelische Autorin auf Lesereise zu begleiten, kamen sie auf mich. Was mich zunächst genervt hat, führte zu einer folgenreichen und schönen Begegnung: Ich lernte 2001 Zeruya Shalev kennen, sie wurde eine Freundin, ihren Roman Liebesleben habe ich adaptiert und daraus meinen ersten eigenen Film gemacht.

STANDARD: Würden Sie gern einmal in Tel Aviv leben?

Schrader: Ich habe vier Monate dort verbracht, in der Vorbereitung und während des Drehens von Liebesleben. Ja, ich liebe diese Stadt. Man kann sie in einer halben Stunde mit dem Fahrrad durchqueren, und trotzdem ist sie eine Metropole, ein Dreh- und Knotenpunkt in verschiedenster Hinsicht. Sie ist bevölkert von Menschen, die um ein Vielfaches interessantere Biografien haben als in vergleichbar großen Städten anderer Länder. Es gibt kaum jemanden in meiner Generation, der nicht schon in anderen Ländern gelebt hat, mehrsprachig ist, komplizierte Familiengeschichten hat, es gibt einfach einen anderen biografischen Erlebnisraum.

STANDARD: Man könnte die Stadt einfach dafür lieben, dass sie herrlich hedonistisch ist.

Schrader: Das ist nicht alles. Das berühmte Nachtleben entspringt auch dem Gefühl, dass das Leben endlich ist. Dieses gemütliche "Machen wir später mal" gibt es weniger als woanders. Jede Familie beklagt Opfer aus den verschiedenen Kriegen, die Leute haben einen anderen Hunger, das Leben im Jetzt einzuatmen, wer weiß, wie lange es dauert.


Blazer von Boss, Kragenbluse von Brunello Cucinelli, langer Rock von Hermès.
Foto: Stefan Armbruster

STANDARD: Wenn Sie an einen neuen Ort kommen, spüren Sie eine Freiheit, sich neu erfinden zu können?

Schrader: Dieses Gefühl kenne ich gut. Aber es ist doch wie im Dschungelcamp: Eine Zeit lang kann man sich und den anderen was vormachen, irgendwann bricht das wahre Ich aus, ob man will oder nicht. Wahrscheinlich hat jeder Versuch, sich zu ändern, trotzdem zumindest eine kleine Wirkung. Die wirklichen neuen Orte entdecke ich meistens durch die Arbeit. Sie ist der persönliche rote Faden, an dem entlang man reist, Menschen trifft, in einem fremden Land einfacher ankommt, es in meinen Augen auch besser kennenlernt. So wie in den sieben Wochen, die ich für Vor der Morgenröte auf der afrikanischen Insel São Tomé verbracht habe. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dort touristisch hinzureisen.

STANDARD: Was wäre daran schlimm?

Schrader: Ich wäre dann nur Zuschauer, getrennt vom Alltag, wie durch Glas. Anderen Menschen in ihrem Leben zuzusehen – das gefällt mir nur im Kino. (Ulf Lippitz, RONDO Exklusiv, 28.9.2016)