Auf ihrem täglichen Weg durch die Wiener Innenstadt begegnen der Anrainerin an schlechten Tagen zwei und an guten Tagen sechs Bettler. Da ist der "Wackler" am Graben, der einen Teddybären bei sich hat und seinen Oberkörper rhythmisch hin und her bewegt. Da ist der Mann im Rollstuhl mit dem schlechten Bein im Rotenturmdurchgang. Und die alte Frau vor dem Erzbischöflichen Palais. Und, und, und. Allen etwas geben? Wer zu Hause gelernt hat, dass man an einem Bettler nicht ohne Gabe vorbeigehen darf, begibt sich auf einen Slalom durch Seitengassen und auf der Fahrbahn. Alle einzelnen Euromünzen sind Bettlergeld. Wenn die aus sind, ist Schluss. Obergrenze.

Mehr geht nicht. Wirklich nicht? In Wahrheit heißt "Ich kann nicht" natürlich "Ich will nicht". Und auch die oft gehörte Mahnung "Hinschauen, nicht wegschauen" befolgt in der Praxis auch der Gutwillige nicht. Man will das ganze Elend nicht sehen und sich nicht vorstellen, wie es all diesen Leuten wirklich geht. Insofern ist der einzelne Bürger in einer sehr ähnlichen Lage wie der Staat, wenn er für die andrängenden Flüchtlinge Obergrenzen festlegt, Mauern und Zäune baut.

"Wir schaffen das", sagte Angela Merkel. Und wir könnten es auch schaffen, wenn wir wollten. Wir wollen aber nicht, und auch das ist eine Tatsache, die Politiker zur Kenntnis nehmen müssen. Alle Flüchtlingsgipfel der letzten Zeit kreisten um diese Frage. Die Wahrheit hinter den vielen gewundenen Bulletins lautet schlicht: Es gibt keine befriedigende Lösung für die Krise, die sowohl den verzweifelten Flüchtlingen wie den Bewohnern der Zielländer gerecht wird. Die diversen Teillösungen – der Türkei-Deal, die finanziellen Hilfen für die Aufnahmeländer in der Region, die Aufstockung von Frontex – gleichen den Umwegen, die der Wiener Innenstadtbewohner wählt, um Bettlern auf seiner Route auszuweichen und durch eine kleine Gabe sein Gewissen zu beruhigen.

Gut ist das nicht. Aber immer noch besser als die Strategie, das Dilemma scheinbar zu lösen, indem man die Opfer kriminalisiert. In Sachen Bettler lautet diese Strategie: Die Elendsgestalten sind in Wirklichkeit gar nicht arm. Sie gehören einer Mafia an. Irgendwo ist ein Boss, der die Bettlerscharen dirigiert und daran gut verdient. Wer diesen nichts gibt, handelt richtig und bekämpft so organisierte Kriminalität.

Und die Flüchtlinge? Die meisten, sagt die einschlägige Propaganda, sind keine "wirklichen" Flüchtlinge. Sie fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern suchen nur ein besseres Leben im Sozialstaat Österreich. Und nicht wenige unter ihnen sind potenzielle Terroristen, gefährliche Attentäter und islamistische Fanatiker, die unsere Werte negieren und unsere demokratische Gesellschaft kaputtmachen wollen. Alle raus, empfehlen Trump und Orbán. Undurchlässige Grenzen, meinen gemäßigte Regierungen.

Wie immer man's auch dreht und wendet – die perfekte Lösung, die Elend und Armut, Bettlerwesen und Flüchtlingsströme ein für alle Mal beendet, wird es nie geben. Kleine Schritte und ein Minimum an Ehrlichkeit sind immerhin besser als nichts. Mehr schaffen wir offenbar derzeit nicht. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 28.9.2016)