Navid Kermani: "Ich benutze natürlich biografisches Material, aber ich mache diesen ganzen Aufwand doch nicht, um von mir zu erzählen ..."

Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Navid Kermani, "Sozusagen Paris". € 22/ 288 Seiten. Hanser-Verlag, München 2016

Foto: Hanser

STANDARD: Bevor wir anfangen: Was halten Sie von Peter Stöger?

Kermani: Super.

STANDARD: Okay, kommen wir zum Buch.

Kermani: Wir können auch bei Peter Stöger bleiben. Der ist ja noch besser als Toni Polster.

STANDARD: Ein Österreicher trainiert den FC Köln, Ihren Verein. Was macht er richtig?

Kermani: Die Mannschaft stabil und das Umfeld ruhig zu halten ist eine große Leistung. Gut, als Kölner wünscht man sich mehr Budenzauber, da verweigert Stöger sich allen Ratschlägen, auch von mir. Ich wäre für den brasilianischen Zehner, der mal kommen muss. Der würde aber das Gefüge vielleicht sprengen. Das sieht Stöger alles. Das ist fantastisch.

STANDARD: Ich frage nach Fußball, weil Sie einmal gesagt haben, die Fans von Köln seien die Schiiten des Fußballs. Konditioniert auf eine Kultur der Niederlage.

Kermani: Vom Selbstbild her ist der FC Köln das Real Madrid des Westens. Was der FC Bayern heute ist, das war früher der FC Köln. Man wird zum Schiiten, weil der Anspruch da ist, dass man zu den Glorreichen gehört, und dann kommt ein Tiefschlag nach dem anderen.

STANDARD: Der Vergleich fällt Ihnen ein, weil Sie auch wissen, wie sich die Schiiten fühlen.

Kermani: Ja, allerdings ist das angeeignet und auch ein bisschen Folklore. Aufgewachsen bin ich nun einmal in Deutschland. Auch in meiner religiösen Erziehung spielte das spezifisch Schiitische, etwa die Trauermythen und Bußrituale, nur eine marginale Rolle, wenn sie nicht sogar dezidiert abgelehnt wurden.

STANDARD: Diese Kenntnisse tauchen in Ihrem neuen Buch auf. Sie beschreiben eine lange Nacht mit Jutta, einer Jugendliebe. Es wird viel geredet – über das Leben, über die Ehe. Sie möchten etwas über die Liebe hören. Jutta will von Ihnen etwas über den Islam hören. Sind das überhaupt Sie, dieser Erzähler in "Sozusagen Paris"?

Kermani: Ich hoffe nicht!

STANDARD: Die Parallelen sind so deutlich wie die Verfremdungen.

Kermani: Wenn eine Figur äußerlich so nah an die eigene heranführt, dann wird der kluge Leser vielleicht auch misstrauisch. Das ist ein uraltes erzählerisches Muster, das müsste doch jeder kennen, der etwa Jean Paul liest. Oder meinetwegen heute Coetzee.

STANDARD: Ihnen ist vielleicht nicht bewusst, wie weit Sie mit dieser Suggestion gehen, dass wir da etwas über Sie, über den öffentlichen und persönlichen Navid Kermani erfahren: Ein Schriftsteller auf Lesereise trifft eine Frau, nun Bürgermeisterin einer Kleinstadt, in die er mit 15 verliebt war. Sie beschreiben die Vorgeschichte in Ihrem Roman "Große Liebe".

Kermani: Ich benutze natürlich biografisches Material, aber ich mache diesen ganzen Aufwand doch nicht, um von mir zu erzählen ... da hätte ich eine Biografie schreiben können. In ein paar Jahren interessieren diese Parallelen mit dem richtigen Leben niemanden mehr. Bei Proust merkt man das deutlich: Die Biografien sind langweilig. Was Proust aber mit seinem eigenen Leben macht, das ist große Literatur, und zwar bis zu dem Punkt, dass er selber in seinem Buch erwähnt, dass Leute sich darüber beschweren, dass sie nicht vorkommen.

STANDARD: In "Sozusagen Paris" geht es um die bürgerliche Ehe. Sie bemühen dabei vor allem die französische Literatur.

Kermani: Natürlich gibt es biografische Erfahrungen, Begegnungen und Beobachtungen. Vieles von dem, was uns so individuell erscheint, betrifft andere genauso. Was mir aber am allermeisten hilft, ist Literatur. Die französische Literatur des 19. Jahrhunderts weiß davon so viel, weil die bürgerliche Ehe damals neu war. Es war eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, dass man Verliebtheit ein Leben lang konservieren soll. Proust nennt seinen Band über Albertine nicht ohne Grund Die Gefangene. Was wir alles mit dem Partner teilen sollen: die Emotionen, die Sexualität, die Gespräche, die Freundschaft, die Geschäfte, die Erziehung, das Kümmern um die Eltern – alles mit einem Menschen! Die Anzahl von Stunden, die man miteinander verbringt, das wurde damals als Überforderung empfunden.

STANDARD: Jutta und ihr indirekt anwesender Ehemann wären ein Beispiel dafür, dass all das integrierbar sein kann?

Kermani: Das ist jedenfalls der Anspruch. Sie wollen weiter gemeinsam Ekstasen erleben. Aber die Erwartungshaltung ist erdrückend.

STANDARD: Sie haben ein Buch geschrieben, das Mut zur Ehe macht.

Kermani: Ich weiß es nicht. Ist es ein Plädoyer für die Ehe oder nicht? Eine junge Schauspielerin, die neulich bei einer Lesung dabei war, meinte: Um Gottes willen, so will man doch nicht leben. Das kann man unterschiedlich lesen.

STANDARD: Die Ehe wird lebbar durch eine Mischung aus Selbstreflexion und Tantra.

Kermani: Ja, und durch eine starke Reduzierung der Erwartungen. Wir haben alle den Kopf damit voll, wie Liebe sein soll. Das ist ein Prozess, sich von diesen Bildern zu befreien. Da bleibt danach vielleicht nicht so viel.

STANDARD: Täusche ich mich, oder war in Ihrem Großroman "Dein Name" von 2011 die Lust an der Exponierung Ihrer selbst und Ihrer Lebenswelt ungehemmter? Das wirkt nun stärker literarisch sublimiert.

Kermani: Das trifft zu. Das hat sich bei mir mehr zu einer geschlossenen Form hin entwickelt.

STANDARD: Sie schreiben auch Sachbücher, z. B. den Bestseller "Ungläubiges Staunen". Sie verstehen sich aber als Schriftsteller?

Kermani: Das geht immer in Wellen. Mit Das Buch der von Neil Young Getöteten (2002) hatte ich lange mehr Publikum als mit den Sachbüchern. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015 hat es mit sich gebracht, dass alles Auflagen erreicht hat, von denen ich nie geträumt hätte. Es war aber vorher schon ein literarisches Werk da. Auf Dein Name werde ich immer noch angesprochen. Jetzt erwarten vielleicht manche den großen Roman zur Zeit oder zum Krieg oder was weiß ich. Das habe ich nie liefern können.

STANDARD: "Sozusagen Paris" ist auch ein Roman über Deutschland. Jutta ist eine in vielerlei Hinsicht typische Figur. In dieses Deutschland, das sie verkörpert, strebt derzeit die halbe Welt.

Kermani: Mir ging es um ein Milieu und um die Konflikte darin, auch um die Borniertheit.

STANDARD: Es gibt ein Wort dafür, das niemand so richtig mag: Jutta ist ein Gutmensch.

Kermani: Auf eine Weise, ja. Der Lektor, der im Buch vorkommt, schießt auch dagegen, den nerven diese Leute total. Der Erzähler liebt diese Weltsicht, weil er zum völligen Unverständnis des Lektors Jutta liebt, aber auch er spürt die Beschränkungen. Wenn man es so liest, ist Sozusagen Paris kein unpolitisches Buch.

STANDARD: Wie vereint man die vielen Talente und Ideen, die in Ihrem Leben zu erkennen sind: Literat, Reporter und der Intellektuelle, der sogar mit dem Bundespräsidentenamt in Deutschland in Verbindung gebracht wurde?

Kermani: Ich kann das nicht steuern, ich kann nur nahe an dem dranbleiben, was mich persönlich interessiert.

STANDARD: Glauben Sie wirklich an Gott?

Kermani: Wenn Sie so fragen, würde ich sagen: Ja. Mit der nächsten Frage wird es kompliziert: Was meine ich eigentlich mit Gott?

STANDARD: Klar, das ist kompliziert. Aber das Ja als solches, das geht? Schon das überrascht.

Kermani: Das geht. Es gibt ja vergleichbare Fragen: Glaubst du an das Nichts? Mystiker haben auch an einen Gott geglaubt, den sie als das Nichts begriffen. Aber an dieser Setzung, an diesem Wort halte ich schon fest. Damit lebe ich.

STANDARD: Wie praktizieren Sie diese Religiosität? Beten Sie? Meditieren Sie?

Kermani: Das würde ich nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten wollen. In meinen Pass würde ich eintragen: Ja. Islam. Darüber hinaus ist es privat. Wenn man mich sieht, sieht man, dass ich Alkohol trinke, auch in der Öffentlichkeit. Aber was auch immer man da hineindeuten mag – das ist meine Privatsache.

STANDARD: Sie haben 2014 eine bedeutende Rede zur Feier des deutschen Grundgesetzes gehalten. Das war eindeutig aufklärerisch. Gott passt da trotzdem dazu?

Kermani: Das war doch für Goethe auch möglich. Er hat sich exzessiv mit Naturwissenschaft beschäftigt, er war ein Aufklärer und ist gerade durch seine Beschäftigung mit der Natur zu einem positiven Gottesbegriff gekommen. Er hat sich auch konfessionell im Alter wieder festgelegt auf den Lutheranismus. Im Wissen, dass es andere Wahrheiten auch gibt, hat er sich dieses Kleid angezogen. Das ist eine grundmystische Haltung, dass Gott in vielen Sprachen spricht und es so viele verschiedene Wege zu Gott gibt, wie Mohammed sagt, wie der Mensch Atemzüge hat. Der Widerspruch Aufklärung und Religion ist doch etwas zu pauschal. (Bert Rebhandl, 1.10.2016)