Die in Bernstein eingeschlossene Gnitze besitzt an den Flügeln "Taschen", die vermutlich als Pheromon-Zerstäuber dienten.

Foto: Frauke Stebner/Steinmann Institut, Uni Bonn

Erst das 3D-Modell brachten die ungewöhnlichen Strukturen ans Licht.

Foto: Peter T. Rühr/ Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig

Bonn – Nur weil ein Wesen vor Dutzenden Millionen Jahren existierte, muss es nicht automatisch primitiv sein, wie ein nun von deutschen Paläontologen vorgestellter Fund eindrücklich zeigt. Die Forscher entdeckten in 54 Millionen Jahre altem Bernstein eine nicht einmal einen Millimeter winzige Mücke. Das Besondere an dem Tier: Das zu den Gnitzen zählende Insekt verfügt über blasenförmige Strukturen am vorderen Rand der Flügel, die die Forscher für ein ausgeklügeltes System zum Versprühen von Pheromonen halten.

Gnitzen sind eine weltweit verbreitete und vielfältige Zweiflüglergruppe. Bei uns kennt man sie beispielsweise als winzige Mücken, die im Wald oder auf Weiden in Schwärmen über einen herfallen und deren Stiche erstaunlich weh tun. Paläontologen um Frauke Stebner von der Universität Bonn haben nun zusammen mit Wissenschaftern des Bonner Forschungsmuseums Koenig sowie der Universitäten Kassel, Danzig (Polen) und Lucknow (Indien) eine neue Art in 54 Millionen Jahre altem Bernstein entdeckt und im Fachjournal "Scientific Reports" beschrieben.

Stebner schürfte in Indien nach Bernstein. Dabei stieß sie auf das fossile Baumharz mit dem ungewöhnlichen, nicht einmal ein Millimeter großen Einschluss. "Häufig erkennt man die Insekten im Bernstein lediglich als schwarzen Fleck", berichtet die Wissenschafterin. Denn rohe Bernsteine sind trüb wie ein Malzzuckerl. Erst aufwendige Schleif- und Polierarbeiten brachten das winzige Tier zum Vorschein. Wie durch ein Bernsteinfenster ließ sich das Insekt durch das Mikroskop betrachten.

Eigenartige Blasenstrukturen

Ungewöhnliche Strukturen des Winzlings offenbarten sich aber erst, als der Bernstein am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) unter die Lupe genommen wurde. Wie ein dreidimensionales digitales Modell der weiblichen Gnitze zeigt, verfügt sie am vorderen Rand ihrer beiden Flügel über eine eigenartige, blasenförmige Struktur. "Heute lebende Gnitzen-Arten haben nicht solche 'Taschen' an den Flügeln", berichtet Stebner. Für die Wissenschafter steht nach umfangreichen Literaturrecherchen fest: Eine Gnitze mit solch einer Flügelstruktur ist bislang noch nie beschrieben worden.

Wie eine nach unten geöffnete Blase mit einem Rand aus feinen Härchen ragt die Struktur aus den Flügeln heraus. Die Wissenschafter rätselten, welche Bedeutung dieses fossile Etwas hat, und stellten Vergleiche mit anderen Arten an. Erst bei den hochentwickelten Schmetterlingen wurden sie fündig. "Diese verfügen an den Vorderflügeln über ganz ähnliche Taschen, mit denen sie Pheromone in die Luft zerstäuben, um für die Paarung Partner anzulocken", berichtet Stebner. Die Position am Flügelrand erlaubt es, die Botenstoffe möglichst großräumig in die Umgebungsluft zu zerstäuben. Die Härchen sorgen über eine Verwirbelung offenbar dafür, dass die Verteilung noch besser gelingt.

Komplexe Pheromonzerstäuber

Heutige Gnitzen nutzen zwar auch Lockstoffe für ihre "Blind Dates" – sie geben die Substanzen aber nicht an ihren Flügeln, sondern am Hinterleib ab. "Auffallend ist, dass die Pheromon-Zerstäuber bei dem Fossil deutlich komplexer sind als bei heutigen Gnitzen", sagt Jes Rust, der die Dissertation von Frauke Stebner betreut. Offenbar haben die Umweltbedingungen in den 54 Millionen Jahre alten Urwäldern im heutigen Indien eine solche Anpassung erforderlich gemacht.

Vermutlich waren damals viele verschiedene Insektenarten unterwegs, die allesamt über Pheromone ihre Sexpartner anlocken wollten. Um aus diesem "Lockstoff-Konzert" überhaupt noch hervorstechen zu können, waren wahrscheinlich ungewöhnlich effektive Zerstäubertechniken notwendig. (red, 8.10.2016)