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Die Juristin Michelle Alexander hat mit "The New Jim Crow" ein Standardwerk über die Motive für Masseninhaftierung geschrieben.

Foto: AP/Megan Leigh Barnard

Wien – Die Sklaverei gilt in den USA seit dem Ende des Sezessionskriegs offiziell als abgeschafft. Der diesbezügliche 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung trat im Dezember 1865 in Kraft, doch er enthält, wie in Ava DuVernays Dokumentarfilm "13th" ("Der 13.") gleich zu Beginn konstatiert wird, eine wichtige Hintertür. Denn es wurde eine entscheidende Ausnahme getroffen. Kriminelle sind von der Regelung bis heute ausgenommen. Ihre Arbeitskraft, ihre Körper stehen also weiter zur Disposition.

"13th", der als erster Dokumentarfilm überhaupt am 30. September das New York Film Festival eröffnet hat und nun auf Netflix als Stream zur Verfügung steht, baut darauf seine so kluge wie passionierte Argumentation auf. Es geht, in aller Kürze gesagt, um die frappierende Kontinuität von Rassismus in der amerikanischen Geschichte, welcher heute in der Überbelegung von US-Gefängnissen seinen Ausdruck findet.

Mythologie des schwarzen Rechtsbrechers

Ein Missstand, der zögerlich auch Eingang in den Wahlkampf gefunden hat, nicht zuletzt unter dem Druck der Bewegung Black Lives Matter. Denn die Masseninhaftierung betrifft auf unverhältnismäßige Weise Schwarze. Die Statistik spricht eine klare Sprache. Wenn man sich vor Augen führt, welche ökonomische Größe der industrielle Gefängniskomplex darstellt – von dem auch international bekannte Großunternehmen profitieren –, gewinnt man eine Vorstellung davon, wie weit dieses Geflecht ins Institutionelle des Landes reicht.

DuVernay hat bereits vergangenes Jahr mit ihrem Bürgerrechtsdrama "Selma" bewiesen, dass sie vor sensiblen Themen nicht zurückschreckt. "13th", dem auch durch die jüngsten Proteste gegen Polizeigewalt in Charlotte Brisanz zukommt, geht sein Anliegen noch um einiges frontaler an. Szenen aus "The Birth of a Nation", dem berüchtigten Stummfilm von D. W. Griffth, führen vor, wie früh und systematisch eine Mythologie des schwarzen Rechtsbrechers erschaffen wurde.

Eine ganze Armada aus hellen Köpfen, Historikern, Aktivisten und Rechtsexperten legt dar, wie zuerst die Segregation, dann die Law-and-Order-Politik unter Richard Nixon sowie Ronald Reagans Krieg gegen Drogen, der mit dem Ausbau des Gefängniswesens einherging, das jetzige System mitermöglicht haben. Auch Bill Clinton hat es mit seinem nicht weniger rigiden Kriminalgesetz weiter gestärkt.

In den Fängen der Justiz

Unter den Experten ist auch Michelle Alexander, die mit dem Bestseller "The New Jim Crow: Masseninhaftierung und Rassismus in den USA" (erscheint Ende des Monats im Verlag Antje Kunstmann) eine der Grundlagen für "13th" verfasst hat. Mit einer rasanten Montage, ohne aber die Übersicht zu verlieren, wechselt DuVernay ihre Interviewpartner, bereitet die geschichtlichen Grundlagen auf und konkretisiert ihre "Anklage" immer wieder mit Fallbeispielen von Afroamerikanern, die in den Fängen der Justiz landeten.

Kaum einem gelang es, sich erfolgreich zu verteidigen, die Bürgerrechtlerin Angela Davis, deren Fall in den 1970ern sogar Erich Honecker bewegte, ist eine der wenigen Ausnahmen. Heute verzichten viele Inhaftierte auf den viel teureren Prozess, um auch unschuldig einem Deal mit der Staatsanwaltschaft zuzustimmen.

Film der Stunde

Bleibt man im Jargon der Justiz, dann bewegt sich "13th" vornehmlich im Modus der Anklage. Doch es treten so überraschende Zeugen wie der Republikaner Newt Gingrich auf, der offen ausspricht, welche verheerenden Effekte Reagans Anti-Crack-Kurs in schwarzen Milieus hatte.

Ava Du Vernays "13th" wurde in den USA zu Recht als ein Film der Stunde bezeichnet. In einer der wenigen bewusst angriffig geschnittenen Stellen wechseln rassistische Provokationen Donald Trumps mit historischen Aufnahmen von durch Mobs verfolgten Schwarzen – nur ein weiteres Bild dafür, wie dringend es dieser Auseinandersetzung bedarf. (Dominik Kamalzadeh, 8.10.2016)