"So net": Oberösterreichs Gemeindebedienstete protestierten 2011 gegen aus ihrer Sicht zu geringe Lohnerhöhungen. Nur noch wenige Gewerkschaften können so mobilisieren wie jene der Beamten.

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Wien – Eigen- oder Fremdverschulden? Auf die Frage nach den Gründen für die über Jahrzehnte hinweg gesunkene Lohnquote, also den Anteil der Arbeitseinkommen an der Wirtschaftsleistung, gibt es je nach Standpunkt sehr unterschiedliche Antworten. Dass es diesen Rückgang gibt, steht außer Zweifel. Während die Nettoarbeitseinkommen laut einem Bericht des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo Ende der 1980er-Jahre rund 67 Prozent des österreichischen Bruttoinlandsprodukts ausmachten, waren es 2012 nur mehr 61 Prozent. Auch, wer davon profitiert hat, ist klar: Das Kuchenstück wanderte von den Arbeitnehmern zu den Kapitalbesitzern. Deren Vermögenseinkommen haben deutlich zugenommen.

Was sind nun aber die Gründe? Eine aktuelle Studie im Auftrag der Arbeiterkammer kommt zum Ergebnis, dass es hauptsächlich am gesunkenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad liege. Der Fall der Lohnquote sei maßgeblich – zu 85 Prozent – vom Rückgang der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer befördert.

Globalisierung als Mitgrund

Andere Gründe würden zwar ebenfalls eine Rolle spielen, aber eine geringere: der mit der zunehmenden Globalisierung verbundene Abfluss von Investitionen und Arbeitsplätzen ins Ausland etwa oder auch der technologische Wandel.

"Der geringere Lohnanteil ist keine unvermeidliche Folge von wirtschaftlicher Entwicklung, sondern von bewussten politischen Entscheidungen. Nur wenn den Arbeitnehmern wieder mehr Gehör geschenkt wird, können wir die Früchte der durch den technologischen Fortschritt steigenden Produktivität gerechter verteilen", so Studienautorin Özlem Onaran von der University of Greenwich im Gespräch mit dem STANDARD.

Dass dies in Zeiten der Globalisierung nicht möglich sei, bezeichnet Onaran als Mythos. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene könnten Österreich und andere europäische Länder effektive Maßnahmen setzen. Dazu gehöre unter anderem ein Steuersystem, in dem Besserverdiener höhere Abgaben als bisher zahlen müssten.

Technologie ersetzt Arbeit

Frühere Studien zu den Ursachen für die langfristig gesunkene Lohnquote zeitigen jedoch ganz andere Ergebnisse. So kam etwa die Industriestaatenorganisation OECD in einem Bericht aus dem Jahr 2012 zum Schluss, dass der technologische Wandel sehr wohl einer der Haupttreiber des Rückgangs der Lohnquote ist. Der Anteil der schwindenden gewerkschaftlichen Mitsprache wird hier mit "nur" zehn Prozent beziffert.

Auch für Hanno Lorenz, Projektleiter bei der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Agenda Austria, hat der Organisationsgrad der Gewerkschaften wenig Einfluss. Automatisierung und Auslagerung von arbeitsintensiven Produktionsschritten, die dann als Vorleistungen importiert werden: Das seien die wahren Gründe für das Absinken der Lohnquote. "Arbeitsintensive Jobs wurden in Österreich weniger, gleichzeitig nahmen kapitalintensive Produktionsprozesse zu", so Lorenz.

"Seit dem Tiefpunkt im Jahr 2007 steigt die Lohnquote wieder. Der Organisationsgrad hingegen ist weiterhin rückläufig", sieht Lorenz Widersprüche in der AK-Studie. Onaran – wie auch das Wifo in seinem Bericht – erklären dies hingegen damit, dass die Kapitalgewinne in der Wirtschaftskrise eingebrochen sind, während die weniger flexiblen Löhne auf ihrem Niveau verharrten.

Ursachenmix

Für Wilfried Altzinger von der Wirtschaftsuni Wien sind Studien, die die Ursachen des Lohnquotenrückgangs quantifizieren, grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen. Es lägen komplexe ökonometrische Modelle zugrunde, die sich in ihren Annahmen teils stark unterscheiden. "Der Trend zuungunsten der Arbeitseinkommen ist eindeutig. Aber es ist ein multidimensionales Problem, man kann die Ursachen nicht isoliert betrachten", so Altzinger.

Fest steht für ihn, dass spätestens seit Beginn der 1980er-Jahre ein Mix aus Globalisierung, Deregulierung, Privatisierung und Finanzialisierung der Wirtschaft den bis dahin geltenden Konsens bei der Aufteilung des Wohlstands aufgelöst habe. Die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer sei seither stark geschwächt.

Doch nicht alle sind gleich stark betroffen: Zwar ist laut OECD das durchschnittliche Arbeitseinkommen in den vergangenen Jahrzehnten inflationsbereinigt gestiegen. Österreichische Arbeitnehmer am unteren Rand der Einkommensverteilung haben davon aber nichts. Das unterste Fünftel bekam 1995 noch 3,4 Prozent der Nettobezüge, 2012 nur mehr 2,4 Prozent. Der Anteil des einkommensstärksten Fünftels der Arbeitnehmer hat hingegen auf 44 Prozent zugenommen. Das oberste Prozent allein verdient sechs Prozent der Arbeitseinkommen.

Antwort Steuerreform

Dass der Anteil der Topverdiener am gesellschaftlichen Gesamteinkommen in den meisten hochentwickelten Ländern in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat, zeigen auch zahlreiche andere Studien. Verschärft wird die Ungleichheit noch dadurch, dass Menschen mit unterdurchschnittlichem Arbeitseinkommen auch so gut wie keine Kapitaleinkommen haben.

Bei den Empfehlungen liegen sowohl OECD als auch WU-Ökonom Altzinger auf einer Linie mit der AK-Studie: Weil die Einkommen der Gutverdiener so gestiegen sind, sollen sie auch mehr Steuern zahlen. Konkret werden eine progressivere Einkommensteuer, ein Ausbau der Vermögenssteuern und Maßnahmen zu mehr Steuerehrlichkeit empfohlen. Altzinger: "Wir sollten sowohl über Kapitalbestands- als auch Kapitalzuwachssteuern sprechen. Und endlich den Kampf gegen legale und illegale Steuervermeidung intensivieren. Das macht quantitativ enorm viel aus." (Simon Moser, 13.10.2016)