Auch Bodo Kirchhoff darf auf eine Auszeichnung hoffen. Er ist mit "Widerfahrnis" auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Foto: Petra Gass/Börsenverein

Italienreisen, der Deutschen liebstes Bildungserlebnis, ist der Exverleger Reither nur allzu gewohnt. Sein kleines Verlagshaus samt angeschlossener Buchhandlung hat er verkauft. Aus freien Stücken hat sich der Schöngeist in eine Wohnhausanlage an einem Tiroler See verkrochen. Dort, gehüllt in den Qualm einer besorgniserregenden Zahl von Zigaretten, entkorkt er die Vino-rosso-Flaschen vom letzten Autoritt nach Apulien.

Den gelernten Besserwisser in Sprachangelegenheiten kann Reither – trotz seines Rückzugs aus den hehren Sphären der Literaturbastelei – nicht verhehlen. Fährt der Stöpsel nach routiniertem Gezerre endlich aus dem Flaschenhals, dann tut er das "mit einem fast menschlichen Laut". Forcierten Wendungen wie dieser begegnet man häufiger in Bodo Kirchhoffs neuer, umfangreicher Novelle Widerfahrnis. Es ist ja auch ein Exlektor, der nunmehr zu erzählen wünscht, was ihm "noch immer das Herz zerreißt".

Doch leiht ihm kein Autorenmanuskript mehr die Stimme – so wie früher, als Reither es gewohnt war, fremder Menschen Prosa herunterzukürzen auf das für sein Empfinden unumgänglich Notwendige. Lektoren aber sind häufig genug Menschen, die denjenigen das Herz zerreißen, denen sie vorgeben, als Bundesgenossen besonders texttreu beizustehen.

So gilt noch für den Rebensaft, dass er mehr hergeben muss, als seine aromatische Platzierung im Text verträgt. Das funkelnde Elixier nimmt Reither als "Wein gegen den Winter" zu sich. Es herrscht somit nicht der geringste Zweifel über die endzeitliche Stimmung, in der dieser graue, vermutlich 68-jährige Löwe die freundlichen Handreichungen des Schicksals entgegennimmt.

Die Person, die ihn aus dem Trott des selbstgewählten frühen Lebensabends herausreißt, gibt sich nicht sofort als Autorin zu erkennen (und nur als solche wäre sie an Reither auch am Richtigen). Was ihm als Erstes in die textentwöhnten Augen sticht, sind ausgerechnet ihre Füße. Genauer noch die "minzfarbenen Riemchen", die ihre Gehwerkzeuge hauchzart umschließen. Im Kalender steht April.

Zwei Lebensflüchtige

Es ist klar, dass die gemeinsam angezettelte Flucht nur in den Süden führen kann, in das sonnige Arkadien der Autostrade, mit ihren Zubringern und verträumten Mauthäuschen. Es ist ein selbstvergessenes Brausen – die Adria-Küste entlang, vorbei an Ravenna und Bari, bis eine Fähre schließlich die Meerenge von Messina überwindet. Endlich können die einander in wortkarger Liebe Zugetanen sich am ersten Fischgericht ergötzen. Wobei Catania, so viel Wahrheit muss noch für die kühnste Fiktion gelten, keinen wirklich idyllischen Zufluchtsort für zwei Lebensflüchtlinge abgibt.

Wechselseitig belauern einander die beiden Liebenden in spe. Sie müssen beinahe nichts sagen, denn das übernimmt der geübte Großromancier Kirchhoff für sie. So klein kann er sich als Novellist gar nicht machen. Man wechselt sich ab am Volant; zarte Griffe um Schulter und Handgelenk bilden Ruhepunkte im Fließen des Autoverkehrs.

Die eigentliche Sensation dieses hochsensiblen Buches stellt die Sprache des Erzählers dar. Weil ja niemand aus seiner Haut herauskann – schon gar nicht aus einer derart schlechtwettergegerbten wie derjenigen Reithers –, kratzt bei allen Formulierungen unsichtbar der Rotstift mit.

Wir werden Zeugen einer allmählichen Verfertigung des Manuskripts beim Erzählen. Kokett fällt sich Reither immer dann ins Wort, wenn ihn eine Formulierung zu ausgedacht und angestrengt dünkt. Umgekehrt lässt sich der Lektor in Ruhe selbst erstaunliche Stelzbauten durchgehen. Er treibt seine Entschiedenheit so weit, dass ihm eine Wortverklumpung wie "mädchenhaftbettlägrigfaul" wie der Poesie letzter Weisheitsschluss vorkommt. Mit einem liebesnärrisch Verblendeten darf man natürlich nicht rechten. Und so ergibt man sich endlich auch in die windschiefe Konstruktion dieses Reiseberichts, dem man die verknappte Episodenform, die jeder Novelle zugrunde liegt, ganz bestimmt nicht abnimmt.

Proben einer Mildtätigkeit

Denn Reithers Gefährtin heißt nicht nur Leonie Palm. Als "Ines Wolken" gab sie einst ein Buch im Eigenverlag heraus. Darin war vom Suizid der eigenen Tochter völlig unklausuliert die Rede. Schwer begreiflich bleibt, wie die nachmalige Besitzerin eines Hutladens sich nun ausgerechnet den gewesenen Verleger in den Kopf setzt und ihn in das eigene BMW-Cabrio schnallt; und wie beider Erwärmungsversuch an den Klippen Siziliens zum Roadmovie verkommt. Den hätte sich so auch ein Problemfilmautor für den ARD-Hauptabend ausgedacht haben können.

Normalerweise nehmen sich Italienreisende streunender Hunde oder Katzen an. Reither und Palm geraten an ein Flüchtlingsmädchen. Dieses, das sich nachvollziehenderweise unkooperativ verhält, bedenken sie in einer Mischung aus Scheu und Faszination mit Proben einer Mildtätigkeit, die vielleicht nicht so sehr der Humanität entspringt als dem Gefühl, Gesetzen literarischer Symmetrie gehorchen zu müssen.

Wiederhergestellt werden soll der begrabene Traum von der intakten Familie. Die Episode, so viel muss verraten sein, stellt letztlich die ganze, herrlich unbedenkliche Italienfahrt infrage.

Jedoch muss man Reither zugutehalten, dass ihm in seiner Exverlegerhaut selbst nicht recht wohl ist: "Das Lieben, das Vergehen darin, alles Schmelzen, er hätte es immer vermieden und dafür Bücher gemacht, die davon erzählten, jedes durch seinen Stift verschlankt, so ausgedünnt, bis nichts mehr darin weich war, faulig, süß, nur noch Sätze wie gemeißelt, ohne die Klebrigkeiten, die Widerhaken der Liebe, all ihr Unsägliches."

Man selbst muss sich an die eigenen Vorgaben ja auch nicht immer sklavisch halten. Aber ein bisschen weniger Fauligkeit wäre denn doch schön gewesen. So gilt Bodo Kirchhoffs "Widerfahrnis" fürs Erste als süß preiswürdig. (Ronald Pohl, 17.10.2016)