Wien – Der Brunnenmarkt im 16. Bezirk in Wien wurde in den 1950-er und 1960-er Jahren auch von einem wohlhabenden Publikum frequentiert. Manch ein Kunde kam extra aus dem Cottageviertel angereist, um bei den Brauneders Sauerkraut zu kaufen. Karl Brauneders Tochter, Rudolfine Schweiger, übernahm das Geschäft am Brunnenmarkt mit den zwei eleganten Schriftzügen im Jahr 1965. 1992 sperrte sie zu. 2012 wurden die dreidimensionalen Schriftzüge abmontiert. Die Spuren, die sie in der Hausfassade hinterließen, zeigen noch immer deutlich das Wort "Sauerkraut".
Aufruf
Tom Koch, Wiener Grafiker und Designer, nennt diese Überbleibsel ehemaliger Stadtschriften "Ghostletters". Die Geschichte des Sauerkraut-Ladens erzählte ihm Rudolfine Schweiger persönlich. Sie reagierte auf einen Aufruf Kochs, Bilder von oder Informationen zu gesichteten "Ghostletters" einzuschicken. So entstand der Bildband "Ghostletters Vienna. Spuren urbaner Identität" (Falter Verlag, 29,90 Euro), der am Donnerstagabend ab 18:30 Uhr im Wien Museum am Karlsplatz präsentiert wird.
Momentaufnahme
Neben zahlreichen Familiengeschichten und historischen Fotos von aus Metall, Glas oder Neonröhren gestalteten Lokalaufschriften zeigt das Buch die dazugehörigen aktuell noch existierenden "Ghostletters". Sie seien ein "Imprint eines vergangenen urbanen Mikrokosmos" und eine "Momentaufnahme", heißt es in der Einleitung. Sie würden sich "ständig wandeln" und früher oder später "aussterben. Nachkommen wird nichts mehr", sagt Koch. Mit dem Band wolle er ein Bewusstsein für die Geschichte und Typographie der Stadt schaffen. Er wünscht sich, dass "Geschäftseigentümer sich überlegen, wie sie die alte Aufschrift erhalten könnten, anstatt sie abmontieren oder übermalen zu lassen".
Leuchtreklamen
Ergänzt wird der Band mit den detailreichen Fassadengemälden des Wiener Künstlers Franz Zadrazil sowie der Geschichte der Schildermalerei. Wien habe ein "besonderes Erbe", sagt Koch. Um 1900 sei die Stadt für ihre Schildermaler bekannt gewesen. Und in den 1930-er Jahren habe sie durch ihre tausenden Leuchtreklamen zu den am besten beleuchteten Städten der Welt gezählt.

Der Sauerkraut-Laden in den 1980-er Jahren.

Rudolfine Schweiger am Marktstand im Jahr 1949.

Fasching am Brunnenmarkt, ca. 1983.
So sieht der Schriftzug heute aus.
Den Fellhandel Haber an der Ecke Veronikagasse/Friedmanngasse in Wien-Ottakring gab es seit 1923.
Das Geschäft im Jahr 1930: 1938 wurde es arisiert. Inhaber Max Haber flüchtete nach Palästina – und kehrte nach dem Krieg wieder zurück.
Die Straßenecke im Jahr 1945.
Der Fellhandel florierte noch bis 2015. Der Schriftzug hängt nun im Wohnzimmer von Max Habers Enkel Robert Uri.
Das Coverfoto des Bildbands "Ghostletters Vienna" zeigt eine kürzlich freigelegte Feuermauer in der Nussdorfer Straße im neunten Bezirk. Sie sei in der Community bereits zur "Pilgerstätte" geworden, sagt Koch. Wenn an der Stelle wieder ein Haus hochgezogen wird, wird die alte Werbung der Gewürzfirma nicht mehr sichtbar sein. Ihr Urheber wird am Donnerstagabend bei der Buchpräsentation im Wien Museum anwesend sein. (Christa Minkin, 19.10.2016)