Der Ringtheaterbrand am 8. Dezember 1881, bei dem offiziell 384 Menschen gestorben sind, bewirkte europaweit ein Umdenken in Sicherheitsfragen. Durch die Elektrifizierung sowie bauliche Maßnahmen sollten Menschen künftig besser geschützt werden. Infolge des Unglücks in dem 1700-Plätze-Haus wurde etwa auch die Wiener Rettung gegründet.

Mit rot lackierten Fingernägeln den Gespenstern der Geschichte auf den Fersen: Die Geschichte eines zerstörten Theaters enthält in Maya McKechneays "Sühnhaus" weit mehr als die Gründe, die zur Katastrophe führten.
Foto: Viennale

Das historische Ereignis bildet den Ausgangspunkt für Maya McKechneays Dokumentarfilmdebüt Sühnhaus. Die Regisseurin begibt sich an den Ort der Katastrophe, den Schottenring 7 in Wien, und horcht in dem heute dort stehenden Gebäude – mittlerweile Sitz der Landespolizeidirektion – den Geschehnissen von damals hinterher. Im Keller pfeifen Lüftungsrohre wie Poltergeister, auf einem Schild steht "Tote Leitung Ringbrunnen".

McKechneay ist den Gespenstern der Geschichte auf der Spur. Sie legt dabei ihre Recherchen offen, hält mit rot lackierten Fingernägeln alte Ansichtskarten in die Kamera. Vor allem aber: Als Sprechstimme hören wir ihr Regisseurinnen-Ich, das sich den vorgefundenen Dingen achtsam annimmt, das Zusammenhänge herstellt und dabei auch den Geistern Raum gewährt. Menschen der Brandnacht, die McKechneay auf Glasnegativen entdeckt, die sie ins Licht hält, beginnen wie Untote zu wandeln. Sühnhaus ist deren filmisches Requiem.

Der Titel Sühnhaus meint das gleichnamige, auf der Brandruine von 1881 neu errichtete, vom Kaiser privat finanzierte Mietshaus. Dessen Gewinne sollten als eine Art "Wiedergutmachung" wohltätigen Stiftungen zukommen. Einer der ersten Mieter damals war übrigens Sigmund Freud. Doch zur Buße taugte das Gebäude nicht. Es wurde auf Knochen gebaut, das beruhigt die Geister nicht.

Maya McKechneay schaut noch genauer hin. War schon beim Ringtheaterbrand vor allem die in den oberen, billigen Rängen dichtgedrängt sitzende, ärmere Bevölkerung Opfer der Flammen geworden (mitverschuldet durch die Weitergabe einer Fehlinformation: "Einer irrt sich, und alle gehorchen"), so setzt sich die Kluft zwischen oben und unten im Nachfolgebau fort.

Penthouse und Wäschekorb

Der 1906 errichtete elektrische Lift, so fällt McKechneay auf, fährt ausgerechnet nicht in jene Etagen, in die das Hauspersonal schwere Wäschekörbe zu schleppen hatte. Oder: Der Sühnhaus-Portier, in eine Wohnung ohne Tageslicht einquartiert, wurde wegen Aufmüpfigkeit auf die Straße gesetzt. Im heutigen Gebäudekomplex diente notabene das Dachgeschoß lange Zeit dem Polizeipräsidenten als Penthouse.

Und da geht der Film über einen dokumentarischen Geisterfilm noch hinaus. Er offenbart hinter der Fassade eines "tragischen" Ereignisses die Strukturen von Herrschaft sowie die herrschaftlich gesteuerte Narration in der konventionellen Geschichtsschreibung. Er legt damit ein auf den Fundamenten von Hierarchie und Gehorsam gebautes politisches System offen: Sühnhaus stellt die Sicht scharf auf die nicht tradierte Erinnerung. Dabei entdeckt Maya McKechneay – manchmal tatsächlich wie von Geisterhand geleitet – in den Bildern und Dokumenten poetische Zusammenhänge als politische: Brandleichen etwa erkennt man, so sagt es der Fachmann, an der sogenannten Fechterstellung der Hände, also der Kontraktion der Beugemuskeln.

Diese in Gemälden festgehaltenen, zur Faust geballten Finger liest McKechneay aber auch als Drohgebärde gegen leichtsinnige Machthaber. Die Geschichte hat ihre Spuren hinterlassen, man muss sie nur lesen. (Margarete Affenzeller, 25.10.2016)