Auch eine Phantominsel: die Schatzinsel.

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Jedes Kind kennt Atlantis – und stellt sich darunter vermutlich etwas völlig anderes vor als der deutsche Autor Dirk Liesemer. Der hat sich in seinem "Lexikon der Phantominseln" die Mühe gemacht, und die genaue Geschichte, Geografie und Größe von 30 Inseln recherchiert, die es nicht gibt. Ein ebenso waghalsiges wie amüsantes Unterfangen, zeichnet doch Liesemer mit einer gar nicht gebotenen Akribie exakte Beschreibungen und Karten von diesen Phantomen.

Beispiel Atlantis: Selbstsicher wird im Steckbrief dieser Insel vermerkt, sie sei so groß wie Europa und nördlich des Äquators im Atlantik gelegen. Der griechische Philosoph Platon, der späteren Seefahrern mit seiner detaillierten Beschreibung von Atlantis in "Kritias" einen Floh ins Ohr gesetzt hatte, ging noch von einer Fläche aus, die der von Libyen und Vorderasien zusammen entspräche. Ist das jetzt größer oder kleiner als Europa? Völlig egal bei einem Eiland, das ohnehin nie jemand zu Gesicht bekam.

Atlantis sehen

Und doch konnte im 17. Jahrhundert theoretisch jeder Atlantis sehen: auf der populären Seekarte, die der Universalgelehrte Athanasius Kircher 1644 anfertigte und auf die sich auch Liesemer in seinem Buch bezieht. Kircher unterrichtete in der Jesuitenschule in Rom und fertigte auch eine detaillierte technische Zeichnung des Turms von Babel an – nur um herauszufinden, ob das Bauwerk nicht doch bis zum Mond gereicht haben könnte. So einer war Kircher.

Es ist aber nicht auszuschließen, dass sich der Universalgelehrte damit nur einen Jux erlaubt hat – es wäre nicht sein erster gewesen: Lange bevor die ägyptischen Hieroglyphen entziffert wurden, behauptete Kircher, sie lesen zu können. Zweifel oder gar Widerspruch hatte er als anerkanntes Genie im Umfeld der Kirche nicht zu befürchten.

Nur auf dem Papier

Liesemers Lexikon ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kartografie. Tappten Geografen und Zeichner früher im Dunklen, ob ein Gebiet überhaupt existiert, verzeichneten sie es auf Seekarten als fantastische Tiergestalt. Wenn sie sich unsicher waren und trotzdem detaillierte Territorien einzeichneten, mussten zweifelhafte Quellen oder die Fantasie dafür herhalten. Bei Kirchers Atlantis-Darstellung vermutet man, dass er dafür die ziemlich ungenaue Südamerika-Karte des flämischen Kartografen Ortelius hergenommen und sie einfach auf den Kopf gestellt hat. Nur ein wenig geschrumpft hat er die Fläche, sonst wäre sie ja größer als Europa und Vorderasien zusammen gewesen.

Einmal abgesehen von Atlantis, überrascht Liesemer mit der Neuentdeckung von Inseln, die nie existierten. Oder wer kennt schon die ganze Pracht des 480 Kilometer langen Eilands New South Greenland? Lange nach den Atlantis-Irrfahrten, nämlich erst im Jahr 1912, fror die "Deutschland", das Schiff der zweiten deutschen Antarktisexpedition im Südpazifik, im Packeis fest. Dabei wären es angeblich nur mehr 60 Kilometer bis zur Insel New South Greenland gewesen.

Expeditionsleiter Wilhelm Filchner machte sich mit einem Suchtrupp auf, und auch sie kamen dabei fast ums Leben. Das Perfide an diesem Territorium, zu dem es genaue Beschreibungen gab: Es existierte ebenfalls nur auf dem Papier. Vertraut hatten die Deutschen einem Karteneintrag des amerikanischen Kapitäns Benjamin Morrell. Doch gar nicht so wenige Seekarten, auf denen New South Greenland vor Grahamland in der Antarktis verzeichnet war, sollen sich damals in Umlauf befunden haben.

Genrewechsel

Bei dieser Beschreibung (und noch bei einigen anderen Phantominselporträts) wechselt Liesemer das Genre: Aus dem Lexikon wird ein Abenteuerroman. Und es tut einem 160 Seiten starken Buch über Nichtgreifbares nur gut, wenn detailreich und spannend etwa der Überlebenskampf der Antarktisforscher geschildert wird: wie sie sich mit Schlitten übers Eis plagen, ihren kargen Proviant rationieren und schließlich doch noch unversehrt zurück zu ihrem fahrbereiten Schiff gelangen.

Wer der Meinung ist, schon genügend Lexika ausgelesen zu haben, und Liesemers Ansatz als historische Problemliteratur abtut, sollte vielleicht noch wissen, dass sein Thema nicht aus der Welt ist: Auf Google Earth war jahrelang Sandy Island rund 1.100 Kilometer vor der australischen Küste verzeichnet. Die Phantominsel – angeblich doppelt so groß wie Manhattan – wurde erst nach der offiziellen Nichtentdeckung im Jahr 2012 gelöscht. (Sascha Aumüller, RONDO, 8.11.2016)