Rudy Giuliani, der ehemalige Bürgermeister von New York, hat in einer Rede wohl das beste Beispiel für den Trend zur postfaktischen Befindlichkeit geliefert. Der Unterstützer Donald Trumps meinte, es habe in den acht Jahren vor der Präsidentschaft Obamas keine "erfolgreichen islamistischen Anschläge in den USA" gegeben. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 ignorierte er, relevanter waren offenbar das eigene Gefühl und das der Zuhörer, dass "irgendwie" mit dem Demokraten Obama alles, inklusive Terror, schlimmer geworden sei.

Kein Recht auf eigene Fakten

In der postfaktischen Befindlichkeitsgesellschaft wird aus dem Recht auf die eigene Meinung und auf Interpretation und Bewertung von Fakten das Recht auf eigene Fakten. Empirische Belege, wissenschaftliche Erkenntnisse und das Prinzip der Widerspruchsfreiheit interessieren nicht mehr. Georg Pazderski von der Alternative für Deutschland konterte das belegbare Argument, 98 Prozent der Migrantinnen und Migranten würden in Deutschland friedlich leben, mit dem Satz: "Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht da drum, wie das der Bürger empfindet. Das heißt also: Das, was man fühlt, ist auch Realität." Frei nach Brecht: Wenn eigene Empfindungen und Gefühle mit der Wirklichkeit in Konflikt geraten, muss die Wirklichkeit daran glauben.

Radikale und populistische Polemik, Hetze und einseitige Propaganda sind in Internetforen Alltag geworden. Die Themen sind oft austauschbar: Brexit, Muslime, Immigranten, Trump, Ceta, TTIP. Die Mehrheit der Österreicher ist etwa gegen den Freihandel, obwohl mittlerweile mehr als die Hälfte aller Waren und Dienstleistungen exportiert werden und Österreichs Wohlstand zu einem beträchtlichen Teil darauf beruht (Hans Rauscher im STANDARD vom 16. September). Triumphieren hier nicht eigene Befindlichkeiten und diffuse Befürchtungen über Realitätsbezug und Klugheit?

Ein Recht auf die eigene Meinung ist sinnvoll, aber sie muss begründet werden. Ein Recht auf eigene Fakten ist Unsinn. "Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen." Dieser Satz Nietzsches bestätigt genau das, was er infrage stellt: Es gibt einen Unterschied zwischen Tatsachen und Interpretationen, und damit gibt es auch eigenständige Tatsachen. Diese können häufig unterschiedlich interpretiert werden, aber die Interpretationsspielräume sind begrenzt. Aus dem Atheisten Nietzsche kann ich keinen gläubigen Christen machen. Aus seinem Todesjahr 1900 nicht das Jahr 1902. Aus seinem "Willen zur Macht" nicht eine platonische Metaphysik. Kriterien wie Erfahrung, Widerspruchsfreiheit, Intersubjektivität und Objektivität sind relevant, auch wenn hier ebenfalls klare Grenzen fehlen.

Interpretationen

Das postfaktische Befindlichkeitsdenken schließt fälschlicherweise aus der Tatsache, dass es Interpretationsspielräume gibt, darauf, dass deshalb jede beliebige Interpretation zulässig und gleich berechtigt sei.

Das "Ich habe ein Recht auf meine eigene Meinung" beruft sich auf genau jene europäischen Traditionen des Natur- und Vernunftrechts, des Humanismus und der Aufklärung, die dieses Recht immer mit der Verpflichtung verbunden haben, die eigene Meinung auch nach bestem Wissen und Gewissen vernünftig zu begründen. Die Behauptung "Jeder hat hier seine eigene Perspektive" setzt tendenziell die eigene Subjektivität absolut (und stellt damit einen Wahrheitsanspruch, den sie nicht begründen kann), statt die eigene Perspektive einer öffentlichen und kritischen Überprüfung durch andere auszusetzen.

Fatale Konsequenzen

Das postfaktische Befindlichkeitsdenken ist nicht nur philosophisch fragwürdig, es hat auch fatale demokratiepolitische Auswirkungen. An die Stelle der gemeinsamen Wahrheitssuche tritt der Austausch von Befindlichkeiten, in dem Menschen, die sich um die Kultivierung der Anlage zur Vernunft bemühen, als "vernunftgläubig" oder als "Ratiofaschisten" (Paul Feyerabend) abgekanzelt werden.

Eduard Kaeser warnte unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung davor, dass "die Bewirtschaftung von Launen" zum "gefährlichen Zustand erkenntnistheoretischer Verantwortungslosigkeit" und zu einer Unterminierung von Aufklärung, Wissenschaft und demokratischem Rechtsstaat führe. In diesem soll es unterschiedliche Meinungen, Befindlichkeiten und Interpretationen geben, aber sie sind durch einen selbst und durch andere auf ihre Legitimität zu prüfen. Ohne diesen öffentlichen Raum der wechselseitigen Überprüfung und Kritik verkommt eine Gesellschaft zu sektenähnlichen Gruppierungen, deren Mitglieder sich gegenseitig in ihren Vorurteilen und Befindlichkeiten bestätigen.

Übrig bleiben Propaganda, Manipulationen, Befindlichkeitsstudien und Lügen. Damit werden die Grundlagen des pluralistischen, demokratischen Rechtsstaats unterminiert. Der Appell an die Wahrheit – so Eduard Kaeser – sei "überlebenswichtig für demokratische Gesellschaften". Aber das klingt, wie er selbst konzediert, "altväterisch". Andererseits: Auch postfaktische Populisten wie Giuliani stellen implizit Wahrheitsansprüche. Sie entziehen sich allerdings schon in den Ansätzen jeder kritischen Überprüfung. (Georg Cavallar, 28.10.2016)