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Faszinierende Erzählung: Kehlmanns Held tritt in einen immer schauerlicheren Wettbewerb mit sich selbst ein.

Foto: APA / EPA / Axel Heimken

"Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding." Hugo von Hofmannsthals tiefe Einsicht in die Tücken des Alterungsprozesses äußert die Figur der Marschallin in der Oper "Der Rosenkavalier". Die Fürstin Werdenberg – so lautet ihr Name – weiß, wovon sie spricht. Sie leistet in Richard Strauss' weltberühmter "Komödie mit Musik" (1911) Verzicht auf Octavian, ihren siebzehnjährigen Geliebten.

In der Fantasiewelt des "Rosenkavaliers" trippeln kleine Mohren in Schnabelschühchen durch die Boudoirs einer Rokoko-Welt, die natürlich niemals existiert hat. Die Liebenden verschmelzen ihre Stimmen zu sehnsüchtigen Terzetten. Die Marschallin aber hat zum wehmütig stimmenden Verrinnen der Zeit eine kleine Theorie entwickelt.

"Wenn man so hinlebt", sinniert sie, "ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder, lautlos, wie eine Sanduhr."

Manchmal, ergänzt die Marschallin, stehe sie mitten in der Nacht auf und halte alle Uhren an. Mit einem Mal ist der ganze Talmiglanz verblasst, die Welt der "Levers" mit ihren knisternden Seidenröcken und erotischen Empfindlichkeiten. Hofmannsthal, das dichtende Wunderkind aus der sterbenden Monarchie des Franz Joseph I., fällt nicht nur dem Fortschritt in den Arm. Er hemmt den Zeiger in seinem Lauf. Spätere, deutlich zynischer gestimmte Geister wie der Berliner Dramatiker Heiner Müller (1929- 1995) werden zu diesem im Grunde skandalösen Vorgang den passenden Kommentar nachliefern.

Abschaffung der Zeit

Die wahren Fortschrittsgeister hätten stets Krieg geführt gegen das Verrinnen der Zeit. Als die Bolschewiken anno 1917 die Einrichtungen des Zarenreiches verwüsteten, richtete sich ihr Zorn auch handgreiflich gegen Bahnhofsuhren und andere öffentliche Chronometer. Der wahre Revolutionär, so sinnierte Müller, schafft die Zeit ab. Die Beschleunigung ist der natürliche Feind jeder grundlegenden Neuordnung der Verhältnisse.

Ein anderes Wunderkind als Hofmannsthal, eines unserer Tage, ist der Wiener Autor Daniel Kehlmann. Seine Weltgeltung verdankt dieser unruhige Geist einem Roman mit dem Titel "Die Vermessung der Welt". Sein neues, außerordentlich schlankes Buch nennt sich "Du hättest gehen sollen". In dieser Erzählung, seinem vielleicht besten und abgründigsten Text bisher, nimmt der mittlerweile 40-jährige Kehlmann den Skandal der Zeitlichkeit mit besonderer Raffinesse in den Blick.

Ein Drehbuchautor verreist mit Frau und Kind in die Berge. Aus dem Fenster eines modernistischen Bungalows genießt die Kleinfamilie einen bezaubernden Ausblick auf ein Gletscherdoppel. Das Tal zu ihren Füßen verheißt hingegen Enge und Rückständigkeit. Der Ich-Erzähler leidet nicht nur an der grassierenden Lieblosigkeit, die zwischen ihm und seiner Schauspielergattin immer heftiger aufpoppt.

Sein ferialer Alltag wird von einer wahren Kette von Déjà-vus heimgesucht. Der Witz liegt in der Anordnung. In das mitgebrachte Notizbuch kritzelt unser geplagter Gebrauchsschreiber Ideen zu einem Problemfilm. Die Beziehungskomödie "Allerbeste Freundin" soll eine würdige Fortsetzung erhalten.

Durchtrittsstellen unserer Wirklichkeit

Man kann es nicht anders sagen: Kehlmanns Held tritt in einen immer schauerlicheren Wettbewerb mit sich selbst ein. Er vermisst plötzlich sein Ebenbild auf der nach innen spiegelnden Fensterscheibe. Er entdeckt dafür sein Double auf dem Flimmerbild, den der Babymonitor aus dem Schlafzimmer seiner kleinen Tochter überträgt.

Immer hektischer formatiert Daniel Kehlmanns Alter Ego die Zeitlichkeit seiner eigenen heillosen Existenz. Immer häufiger bricht seine Schilderung mitten im Satz ab. Ein kleines Geodreieck, das Werbegeschenk eines mürrischen Greißlers im Tal, zeigt nach sachgemäßem Gebrauch auf einem Blatt Papier "unmögliche" Winkel an.

Kehlmann, der physikalische Spekulationen liebt, deutet eine bombastische Erweiterung des Vorstellungskreises an. Gibt es Durchtrittsstellen im Verhau unserer Wirklichkeit, durch deren dünne Membran hindurch parallele Universen nicht nur sichtbar, sondern, mit Blick auf die gebrechliche Einrichtung der Welt, unheilvoll wirksam werden?

Der entscheidende Punkt liegt jedoch in der resultierenden Auflösung jeder normalen zeitlichen Abfolge. Kehlmanns Erzähler handelt mit sich selbst um die Wette. Er darf nicht sicher sein, dort, an der Stelle, auf die sein Blick zufällig trifft, nicht schon selbst anwesend gewesen und selbst tätig geworden zu sein.

Dieser entsetzliche Blitz der Erkenntnis löscht jede Evidenz. Kehlmann bedient sich mit äußerster Ökonomie – sein Büchlein umfasst keine hundert Seiten – eines Thrillersettings, um das krisenhafte Bewusstsein "moderner" Befindlichkeit auf die Kulturindustrie zurückzuspiegeln.

Wiederholungszwang als Minderleistung

Pate für seine kleine, raffinierte Horrorshow stehen zweifellos Filmemacher wie Stanley Kubrick ("Shining") und David Lynch ("Lost Highway"). Lynchs vom Mittelstreifen perforierte Straße kehrt sogar wieder. Diesmal als alpiner Serpentinenweg, der den ins Tal hinabkletternden Autofahrer beinahe aus der Kurve trägt.

Karl Marx hat in "Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon" (1852) mit Blick auf das Verrinnen von geschichtlicher Zeit jeden Wiederholungszwang als Minderleistung beschrieben: "Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce."

Autorinnen und Autoren aller Länder und Zeiten haben sich nicht von ungefähr mit Händen und Füßen gegen die Zeit gewehrt. Die Idee, die Lage der Menschheit könnte sich verbessern, weil Letztere sich – zu ihrem Vorteil – mit der Zeit verbündet, wurde mehrfach verworfen. Die Literatur der Moderne enthält demgegenüber eine nicht enden wollende Zahl von Modell- und Planspielen.

Zumeist ist von einer "Wiederkehr" der Zeit die Rede. Nietzsche versuchte sich solcherart mit der Temporalität zu befreunden. Proust zwang sie mit seiner Erinnerungsarbeit ins Prokrustesbett seines Romans. Andere, sehnsuchtsvollere Geister wie Hölderlin träumten von einer Wiederkehr der griechischen Götter und Genien. Seine späten, umdunkelten Jahrzehnte verbrachte er untätig in einem Tübinger Turm. (31.10.2016)