Holley Moyes, Archäologieprofessorin an der University of California in Merced, vermutet, dass die Maya Rituale dafür einsetzen, kriegerische und zwischenmenschliche Konflikte kleinzuhalten.

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Wien – Das Bild des steinzeitlichen Höhlenmenschen hat sich durch Filme, Bücher und Serien ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Dass man aber im Paläolithikum nicht nur auf fußbetriebene Steinautos verzichtete, sondern auch keine tiefen Höhlen bewohnte, mag den einen oder anderen Besucher der Veranstaltungsreihe TEDx Vienna, die kürzlich im Wiener Volkstheater über die Bühne ging, überrascht haben. Die US-amerikanische Archäologin Holley Moyes demontierte das Klischee, erzählte von ihren Forschungen im mittelamerikanischen Belize und interdisziplinärer Finsternisforschung.

STANDARD: Welche Hinweise liefert uns die Archäologie in Bezug auf Dunkelheit?

Moyes: Das ist vor allem die Erkenntnis, dass die tiefen, dunklen Bereiche in Höhlen früher nie von Menschen bewohnt waren. Es war jedenfalls nicht die Norm. Die Idee des "Höhlenmenschen" ist entstanden, weil Menschen im 19. Jahrhundert Werkzeuge und Knochen in den Tiefen von Höhlen gefunden und daraus gefolgert haben, dass man in der Steinzeit dort gelebt hatte. Sie haben aber nicht berücksichtigt, dass sich Höhlen mit der Zeit verändern oder Dinge eingeschwemmt werden können. Wenn man nicht die vorderen Bereiche von Höhlen betrachtet, wo es natürliches Licht gibt, sondern die tief im Inneren liegenden Zonen, kann man herausfinden, dass Menschen diese dunklen Bereiche als rituelle Orte genutzt haben. Das fängt schon mit den Neandertalern an: Sie lebten im äußeren Höhlenbereich, aber bestatteten ihre Toten in den dunklen Zonen. In der Steinzeit malten Menschen hier interessanterweise sogar Bilder an die Wände.

STANDARD: Warum werden Höhlen als heilige Orte betrachtet und für Rituale genutzt?

Moyes: Höhlen sind die dunkelsten Orte auf der Welt, da ist es permanent finster. Manchmal suchen wir die Dunkelheit aktiv auf, was spannend ist, da sie uns sonst eher ängstlich oder nervös macht. Aber aus bestimmten Gründen gehen wir trotzdem ins Dunkle. Und wenn wir in eine Höhle gehen, begeben wir uns in eine etwas mystische Unterwelt, allein schon, weil es dort nicht wie an der Oberfläche aussieht. Es gibt Tropfsteine, es leben dort andere Tiere, Fledermäuse zum Beispiel. Und ich denke, dass das Aufsuchen dieser Orte und der Dunkelheit eine Rolle spielt für Spiritualität.

STANDARD: Wie beeinflusst die Dunkelheit Menschen?

Moyes: In den 1950er-Jahren entwickelte der Neurophysiologe John Lilly Floating-Tanks zur Reizabschirmung, um dieser Frage nachzugehen. In diesen Becken befindet man sich in kompletter Dunkelheit, es ist absolut still, und man schwebt dank konzentrierten Salzwassers nahezu schwerelos. Und wenn man sich lang genug in totaler Finsternis befindet, fängt man an, zu halluzinieren und geometrische Muster zu sehen, die sich bewegen, später dann Gestalten, andere Menschen oder Tiere.

STANDARD: Wie hat das Ihre eigene Forschung beeinflusst?

Moyes: Nachdem ich diese Studien gelesen hatte, habe ich mich gefragt: Wenn ein kompletter Reizentzug das Denken verändern kann, wie sieht es dann mit sehr wenig Licht aus, wie wenn man mit einer Fackel in einer dunklen Höhle ist? Daher habe ich eine Gruppe mit Kognitionsforschern und Psychologen gebildet, um zusammen herauszufinden, ob schlechte Lichtbedingungen unser Denken verändern. Wir haben einen Fragebogen mit Szenarien und Antworten erstellt, die eine Erklärung für eigentlich unerklärbare Vorgänge geben sollten.

STANDARD: Wie sahen diese Szenarien aus?

Moyes: Ein Beispiel war: Dein Großvater ist vor einem Jahr gestorben, und du wachst am Jahrestag seines Todes auf und riechst den Geruch seiner Zigarren. Niemand ist im Haus, und es ist ein sehr spezieller Geruch. Wie erklärst du dir das? – Wir haben vier Antwortmöglichkeiten gegeben. Zwei davon sind eher rationale Erklärungen, sogenanntes wissenschaftliches Denken. Etwa, dass man wohl Halluzinationen hat. Die anderen beiden Antworten beinhalteten einen Gott oder übernatürliche Kräfte, etwas, das wir "imaginäres Denken" nennen. Das waren dann Erklärungen wie "Opa schickt eine Nachricht aus dem Grab" oder "Gott sagt dir, dass es Opa gut geht".

STANDARD: Wie ging die Befragung aus?

Moyes: Wir hatten insgesamt 104 Probanden, die wir in zwei Gruppen eingeteilt haben – eine Gruppe hat den Fragebogen in einem gut beleuchteten Zimmer ausgefüllt, die andere hatte nur ein sehr kleines Licht. Es stellte sich heraus: In dem dunklen Raum war die Zahl der Probanden, die die Antworten des imaginären Denkens wählten, um elf Prozent höher. Das ist ein statistisch signifikanter Unterschied, und wir waren überrascht, weil wir nicht gedacht hätten, dass das wirklich funktioniert.

STANDARD: Und das war unabhängig davon, ob und woran die Testpersonen glauben?

Moyes: Ja, das haben wir bei unseren Daten berücksichtigt. Es war zwar eine eher kleine Studie, aber sie hat uns dazu gebracht, mehr in diese Richtung zu forschen. Anthropologen und Archäologen interessieren sich mittlerweile sehr für Licht und Dunkelheit. 2014 ist beispielsweise eine Studie von der amerikanischen Forscherin Polly Wiessner erschienen, die bei einem Volk der Kalahariwüste rund 200 Geschichten und Gespräche aufgezeichnet hat. Auch, ob diese Unterhaltungen am Tag oder nachts stattgefunden haben. Die Leute haben sich untertags darüber unterhalten, was sie machen wollen, wo sie hingehen und was sie essen werden. Nachts sah das anders aus: Beim Sitzen um das Lagerfeuer haben sie gesungen, getanzt und zu 80 Prozent der Zeit Geschichten erzählt. Das passt sehr gut zu unseren Forschungsergebnissen.

STANDARD: Ihr Hauptforschungsgebiet ist die Kultur der Maya in Belize. Welche Rituale haben die Maya in Höhlen abgehalten?

Moyes: Von mesoamerikanischen Völkern wissen wir, dass es bestimmte Gottheiten gab, die in Höhlen lebten. Eine davon ist der Regengott Chaac, da die Menschen dachten, dass Wolken in Höhlen entstehen. Gerade in tropischen Gegenden kann es passieren, dass Höhlen Wolken ausströmen. Die Menschen sind daher in Höhlen gegangen und haben den Regengöttern Gaben gebracht, wohl als Bitte um landwirtschaftliche Fruchtbarkeit. Höhlen waren auch politische Orte und galten als "Plätze der Macht". Daher können dort Initiationsriten oder Rituale zur Einführung eines neuen Königs stattgefunden haben.

STANDARD: Werden heute noch Höhlenrituale praktiziert?

Moyes: Ja, es gibt in Mittelamerika viele traditionelle Völker, die solche Rituale durchführen, etwa in Guatemala. Aber auch die meisten großen Weltreligionen halten Pilgerreisen zu Höhlen ab. Tausende Menschen reisen ins französische Lourdes. Eine der größten hinduistischen Pilgerreisen führt zur Amarnathhöhle in Indien, in der sich ein Eisstalagmit befindet, der Shiva darstellen soll. Menschen marschieren tagelang durch die Kälte, um dort hinzukommen, und oft sterben Pilger unterwegs. Auch im Buddhismus sind Höhlen sehr wichtig, es gibt viele Klöster mit Höhlentempeln.

STANDARD: Sie beschäftigen sich auch mit der Frage, wie Religion Gesellschaften beeinflusst. Welche Rolle spielt sie?

Moyes: Ein Aspekt, der mich an der Erforschung der alten Maya interessiert, ist, wie ihre Kultur zusammengebrochen ist. An manchen Orten gab es jedenfalls immer mehr kriegerische Auseinandersetzungen. Und es scheint so, als ob sie mit Ritualen darauf reagiert hätten: Sie haben möglicherweise versucht, kriegerische und zwischenmenschliche Konflikte durch Religion kleinzuhalten. Das ist meine Hypothese. Ich denke, dass die Menschen so aktiv versucht haben, ihre Gesellschaft zusammenzuhalten und den Leuten Hoffnung zu geben.

STANDARD: Gibt es dafür Hinweise?

Moyes: Ein möglicher Hinweis ist eine riesige Pilgerstätte in einer Höhle, wo man eine Art großes Amphitheater gebaut hat. Dort hat man wahrscheinlich extrem viele Personen zusammengebracht, es scheint, als ob sie dort Staatsrituale durchgeführt hätten, vielleicht, um ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Es gibt im Übrigen auch wissenschaftliche Hinweise darauf, dass wir Menschen Rituale brauchen – sie sind eine gute Möglichkeit, Solidarität zwischen Menschen aufzubauen, egal ob diese Rituale nun mit Göttern oder Religionen zu tun haben oder nicht. Ideologien weisen oft Rituale auf, auch Veranstaltungen wie Konzerte oder Theater haben rituelle Aspekte. Als frühere Schauspielerin weiß ich, dass Menschen im Theater zusammenkommen und oft gemeinsam eine emotionale Erfahrung haben, und das bringt das Publikum zusammen. (Julia Sica, 2.11.2016)