Die ÖVP sieht die Schuld für das Platzen der Verhandlungen bei Minister Stöger, die Roten machen die ÖVP verantwortlich, dass es zu keiner bundesweiten Lösung bei der Mindestsicherung kam.

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Wien – Mit gegenseitigen Vorwürfen reagierten am Mittwoch die Parteizentralen von SPÖ und ÖVP auf die vorerst gescheiterten Verhandlungen über eine Reform der Mindestsicherung. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Georg Niedermühlbichler machte die ÖVP für das Scheitern verantwortlich, ÖVP-Generalsekretär Werner Amon sah die Schuld bei Sozialminister Alois Stöger von der SPÖ.

"Zu einem Kompromiss gehören immer zwei Seiten, die aufeinander zugehen. Wenn sich aber nur ein Verhandlungspartner bewegt und der andere immer neue Forderungen stellt, ist das kein Verhandeln, sondern nur dem Ziel untergeordnet, eine Lösung zu torpedieren. Und genau das hat die ÖVP gemacht", erklärte SPÖ-Parteimanager Niedermühlbichler. Oberösterreich und Niederösterreich würden dabei "das ganze Land in Geiselhaft nehmen und eine Politik auf dem Rücken der Schwächsten betreiben".

ÖVP-General Amon war der SPÖ indes vor, an einer Reform der Sozialhilfe gar nicht interessiert zu sein. "Stöger hat schon das ganze Jahr wie ein Amateur verhandelt und genauso wie das hauptbetroffene rote Wien keinen echten Reformwillen gezeigt", sagte Amon. "Wenn die SPÖ glaubt, dass sie der ÖVP jetzt den schwarzen Peter zuschieben kann, ist sie am Holzweg. Es war einzig und alleine die SPÖ, die Fortschritte in den Verhandlungen torpediert hat."

Stöger: Aus für Bundeszuschuss mit Jahresende

Stöger will nach dem Scheitern der Gespräche auch den Bundeszuschuss an die Länder für die Krankenversicherung der Bezieher stoppen. "Das läuft am 31. Dezember aus", sagte er der APA. Die Schuld am Scheitern sieht er bei der ÖVP, weitere Zugeständnisse lehnt er ab: Die SPÖ habe sich bereits bewegt.

Der Sozialminister sieht die Bundesländer nun in der Verantwortung, eigene Regelungen zu treffen. Damit entfällt auch der Bundeszuschuss zur Krankenversicherung der Mindestsicherungsbezieher von heuer 50 Millionen Euro. Stöger dazu: "Es ist die Verantwortung der Länder, dafür zu sorgen, dass diese Personengruppe versichert ist. Dazu müssen sie die Beiträge bei den Krankenversicherungsträgern bezahlen. Punkt." Das Drängen von VP-Klubchef Reinhold Lopatka nach weiteren Zugeständnissen weist Stöger zurück. "Die SPÖ hat sich in vielen Schritten auf die ÖVP zubewegt und es wäre schön, wenn sich die ÖVP einmal bewegen würde."

Weitere Gespräche sind aus Stögers Sicht nur auf Basis seines Vorschlags vom Montag möglich: "Ich habe der ÖVP klare Vorstellungen genannt. Wenn die ÖVP bereit ist, die zu akzeptieren, dann können wir über Details reden. Aber dieses Spiel, uns ein ganzes Jahr an der Nase herumzuführen, das wird nicht gehen." Stöger kritisierte einmal mehr, dass die Lösung von ÖVP-geführten Bundesländern (Ober- und Niederösterreich) boykottiert worden sei: "Die haben sich keinen Millimeter bewegt. Und die ÖVP hat auch verhindert, dass es eine Lösung mit sieben (Bundesländern, Anm.) gibt." Auch die SPÖ wolle, dass sich Leistung lohnt, aber man sei nicht bereit, den Kindern von Mindestsicherungsbeziehern die Unterstützung zu streichen.

ÖGB und AK für weitere Gespräche

ÖGB und Arbeiterkammer befürchten nach dem vorläufigen Scheitern mehr Armut, steigende Kriminalität, die Zunahme von Schwarzarbeit sowie Sozialtourismus unter den Ländern. ÖGB-Präsident Erich Foglar und AK-Präsident Rudolf Kaske fordern deshalb weitere Gespräche. "Bis zum 31. Dezember ist noch genug Zeit, das Ruder herumzureißen. Es wäre mehr als bedauerlich, wenn eines der fortschrittlichsten Sozialgesetze der letzten Jahre am Föderalismus scheitert", erklärten die Sozialpartner-Vertreter am Mittwoch in einer Aussendung.

"Es hat den Anschein, dass sich manche Regierungs-und Landespolitiker nicht mehr daran erinnern können, wofür die bedarfsorientierte Mindestsicherung eingeführt wurde: nämlich als Maßnahme zur Armutsbekämpfung, die österreichweit einheitliche Standards festlegt. Kürzungsforderungen bewirken genau das Gegenteil – sie sind der sichere Weg in Armut und steigende Kriminalität", kritisierten Foglar und Kaske.

"Vor allem die Länder Niederösterreich und Oberösterreich stellten allerdings nicht die Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt ihrer Politik, sondern die – höchstwahrscheinlich rechtswidrige – Schlechterstellung von Asylberechtigten gegenüber anderen Anspruchsberechtigten", so der ÖGB-Präsident. "Es muss allen klar sein, dass Dumping bei der Mindestsicherung, wie etwa in Oberösterreich, den Betroffenen die Lebensgrundlage entzieht und nur Schwarzarbeit fördert", ergänzte der AK-Chef.

Lopatka für weitere Verhandlungen

Vizekanzler Reinhold Mitterlehners Feststellung, dass weitere Verhandlungen keinen Sinn mehr machten, stößt in der eigenen Partei auf eigenwillige Interpretationen. "Wir sind bereit weiterzuverhandeln", sagt ÖVP-Klubchef Lopatka trotz Mitterlehners Absage. "Eine österreichweit einheitliche Lösung ist der bessere Weg."

Als Widerspruch zu Mitterlehner, der nun zumindest ein Jahr ohne bundeseinheitliche Regeln auskommen will, sieht Lopatka diese Forderung nicht. Mitterlehner habe lediglich zur Kenntnis genommen, dass Stöger keine Einigung zustande bringe. Die ÖVP sei zu Gesprächen bereit, könne die SPÖ aber nicht dazu zwingen. Lopatka verweist darauf, dass sich auch der Sozialdemokrat Hans Niessl, der als Landeshauptmann im Burgenland mit der FPÖ regiert, vergangene Woche via "Kronen Zeitung" für eine Wartefrist bei der Mindestsicherung ausgesprochen hat. Demnach sollen Personen, die neu nach Österreich kommen, für ein, zwei Jahre nicht die volle Leistung erhalten. Aus Lopatkas Sicht wäre das nicht verfassungswidrig, weil es nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für im Ausland lebende Österreicher gelten würde: "Diese Differenzierung ist sachlich gerechtfertigt."

Sollte der Bund-Länder-Vertrag tatsächlich auslaufen, will Lopatka zumindest den Bundeszuschuss zu den Krankenversicherungskosten der Bezieher beibehalten. Der Bund habe sich in der 15a-Vereinbarung dazu verpflichtet, die Länder zu unterstützen. "Nachdem der Bund vom Verhandlungstisch aufgestanden ist, kann man nicht die Länder dafür bestrafen", sagt Lopatka.

Platter sieht "SPÖ-Wahlkampf"

Tirol stehe weiterhin für Verhandlungen über eine bundesweite Reform der Mindestsicherung zur Verfügung, sagt dazu Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP). Stöger sei gefordert, eine derartige Lösung mit "allen Bundesländern" abzuschließen, anstatt "Ultimaten auszusprechen und Verhandlungsrunden schon vor Beginn für beendet zu erklären". Platter: "Ich warne davor, in der Frage der Mindestsicherung bereits den Wahlkampf auf Bundesebene einzuläuten." Die Bevölkerung erwarte "sich zu Recht von der Politik, dass sie arbeitet und nicht streitet".

Pröll hätte an bundesweite Lösung geglaubt

Er hätte an eine bundesweite Lösung geglaubt und sei über den Kerns Anruf erstaunt gewesen, dass es keine weiteren Verhandlungen gebe, sagte Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) am Mittwoch. Niederösterreich werde nunmehr am Donnerstag kommender Woche das Mindestsicherungsgesetz novellieren. Das Land habe somit frühzeitig vorgesorgt.

Die Novelle werde mit 1. Jänner 2017 umgesetzt, kündigte Pröll an. Sie bedeute Respekt gegenüber Menschen, die bereit seien zu arbeiten. Es sei vorgesorgt, dass es keine sozialen Härten gebe, etwa bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Was kinderreiche Familien angehe, so erhielten diese auch Kinderbeihilfe, erinnerte der Landeshauptmann.

Die Novelle des niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetzes sei somit sozialverträglich. Menschen seien angehalten, zur Arbeit zu gehen und sich nicht mit arbeitslosem Einkommen über die Runden zu bringen. Die Regelung gelte für In- und für Ausländer, sagte Pröll. Die am 20. Oktober im Landtag eingebrachte Novelle beinhaltet laut ÖVP-Klubobmann Klaus Schneeberger folgende Eckpunkte: Die Mindestsicherung wird pro Haushalt bei 1.500 Euro gedeckelt, wobei jedes Einkommen eingerechnet wird. In diesem Betrag sind auch die Wohnkosten enthalten. Ausnahmen gibt es für Personen, die Pflegegeld oder erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder dauernd arbeitsunfähig sind. Weiters kommt eine "BMS light" für Personen, die in den vergangenen sechs Jahren weniger als fünf Jahre ihren Hauptwohnsitz bzw. rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich hatten.

Die Höhe der Leistungen wird für eine erwachsene Person bei 572,50 Euro liegen, wobei darin auch ein Integrationsbonus enthalten ist. Denn "BMS light"-Bezieher werden verpflichtet, Maßnahmen zur besseren Integration zu erfüllen, wie zum Beispiel Deutsch- oder Wertekurse zu absolvieren. Bei Verweigerung werden die Leistungen gekürzt. Eine Neuausrichtung bei der Mindestsicherung müsse kommen, hatte Schneeberger bereits Anfang Oktober allein schon wegen der Kosten in Niederösterreich auf Handlungsbedarf verwiesen. Er sprach von 47 Millionen Euro (2013), 53 (2014) und 61 (2015). 2016 würden 85 Millionen Euro erwartet, für 2017 seien 95 Millionen vorgesehen. Das sei eine "enorme Herausforderung" für das Landesbudget.

Auch Kärnten trifft Vorbereitungen für eigenes Modell

Auch Kärnten trifft bereits Vorbereitungen für ein eigenes Modell. Es seien Berechnungen im Gange, wie viel das Ende der Übernahme der Krankenversicherungsbeiträge durch den Bund das Land kosten werde, hieß es am Mittwoch aus dem Büro von Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ). Man müsse in einem Kärntner Modell der Mindestsicherung den Spagat schaffen zwischen dem, was machbar und vertretbar sei, und dem, was den Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, noch gerecht werde. Wie das Modell konkret ausschauen könnte – Höhe, Deckelung, Flüchtlinge et cetera –, war vorerst unklar.

In einer Aussendung hoffte Kaiser, dass es trotz aller Rückschläge noch zu einer Einigung komme. Er appellierte an die ÖVP, "ihre populistische Blockadehaltung aufzugeben und Vernunft walten zu lassen". Die SPÖ sei ihr schon sehr weit entgegengekommen. Sollte die ÖVP eine gemeinsame Regelung "weiter partout verhindern", werde es am Ende nur Verlierer geben.

Niessl für "individuelle Lösung" in den Ländern

Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl (SPÖ) stellte sich am Mittwoch hinter die Entscheidung Kerns, die Verhandlungen abzubrechen. Er befürworte eine "individuelle Lösung" in den Bundesländern. Im Burgenland werde man eine "burgenlandspezifische Lösung" finden, sagte Niessl der APA. Ausgangspunkt der Verhandlungen mit dem Koalitionspartner FPÖ seien eine Deckelung der Mindestsicherung, eine Wartefrist sowie mehr Sachleistungen und dafür weniger Geld für Mindestsicherungsbezieher. Die Deckelung kann sich Niessl bei "etwa 1.500 Euro" vorstellen.

Eine Wartefrist könne genutzt werden, um Deutschkurse zu besuchen und eine berufliche Ausbildung zu machen, so Niessl. Möglich wäre für ihn, die volle Mindestsicherung erst dann auszuzahlen, wenn der Nachweis über den Besuch eines Deutschkurses vorliegt. Der Ersatz von Geld- durch Sachleistungen sei durch die geringeren Lebenshaltungskosten und Mieten im Burgenland bedingt.

Dass der Bund keine Beiträge zur Krankenversicherung der Mindestsicherungsbezieher mehr zahlt, wenn diese völlig in Länderkompetenz wandert, ist für Niessl kein Problem. Einerseits werde sich das Burgenland durch die Deckelung einiges ersparen. Andererseits würden sich die Länder darum bemühen, dass "der Sozialminister sehr wohl die Sozialversicherungen bezahlt". Denn am meisten sei Wien davon betroffen – und angesichts dessen, was Wien geleistet habe, sei es "nicht fair", die Sozialversicherung nicht mehr zu zahlen.

Grüne attackieren ÖVP

Die Grünen attackieren nach dem Platzen der Verhandlungen die ÖVP. Oberösterreich, Niederösterreich und der schwarze Parlamentsklub hätten eine "politisch konstruierte Neiddebatte" geführt und nie eine ernsthafte Lösung angestrebt, kritisierte Parteichefin Eva Glawischnig am Mittwoch. Sie warnt vor einem "Rückschritt in die sozialpolitische Steinzeit". Denn mit dem Auslaufen der Bund-Länder-Vereinbarung drohten unterschiedliche Standards in den Ländern bis hin zum Wegfall der Krankenversicherung für die Bezieher.

Die Grünen – sie regieren in vier Bundesländern mit und hätten die Einigung dort mittragen müssen – hätten sich um eine österreichweite Lösung bemüht. In der ÖVP habe es aber von Beginn an eine Allianz gegeben, die nach jedem Entgegenkommen "immer wieder nach unten lizitiert" habe. Und die vom Sozialminister als letzten Kompromiss vorgeschlagene verpflichtende Deckelung bei 1.500 Euro sei auch den Grünen zu weit gegangen. "Das Niveau ganz zum Schluss war so tief – wir haben wenig Lust, FPÖ-Sozialpolitik zu legitimieren", so Glawischnig mit Blick auf das schwarz-blau regierte Oberösterreich.

FPÖ kritisiert Erpressungsversuche

FP-Generalsekretär Herbert Kickl wirft Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) "Erpressungsversuche" gegenüber den Bundesländern vor. Stöger hatte angekündigt, den Ländern nach Auslaufen der Mindestsicherungs-Vereinbarung den Bundeszuschuss zur Krankenversicherung zu streichen. Kickl wünscht sich angesichts dieser Aussagen Stögers Vorgänger Rudolf Hundstofer zurück. "Bei aller Kritik gegenüber Hundstorfer in vielen Politikfeldern, in einer solchen Sackgasse wäre er als Sozialminister niemals steckengeblieben", so Kickl in einer Aussendung: "Offensichtlich hat SPÖ-Sozialminister Alois Stöger zu viele Folgen der US-Serie 'Chicago 1930' gesehen." Stöger solle lieber die Krankenversicherungsbeiträge für arbeitslose EU-Bürger, Drittstaatsangehörige und Flüchtlinge einsparen. (APA, 9.11.2016)