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Wolken über der City of London: Der Austritt der Briten aus der EU wird tiefe Spuren hinterlassen.

Foto: Reuters / Toby Melville

Von martialischen Formulierungen hält Christian Kesberg, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in London, wenig. Er habe auf den Brexit gewettet, nicht aus Überzeugung, sondern um eine Gegenposition einzunehmen. Und er sei dann doch überrascht gewesen vom Ausgang der Abstimmung im Juni, als die Briten mit knapper Mehrheit für ein Verlassen der EU votiert haben.

"Ich spreche bewusst nicht von einem Totalschaden, der entstehen wird. Für den britischen Finanzsektor wird der Brexit ein massiver Blechschaden", sagte Kesberg am Montag in Wien. 1,3 Millionen Menschen arbeiteten in der Londoner City, etwa zwölf Prozent sei der Beitrag des Sektors zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Großbritannien.

Mobile Finanzdienstleistung

Drei von zehn Pfund, die im Londoner Finanzdistrikt erwirtschaftet werden, hingen direkt an der EU, davon rund die Hälfte am sogenannten Euro-Clearing. Die Europäische Zentralbank (EZB) fordert seit längerem, dass die Abwicklung großer Wertpapiergeschäfte in Euro auf den Kontinent geholt wird. Das dürfte nun umgesetzt werden.

Dass andere internationale Finanzdienstleistungen nach Vollzug des Brexit statt in London dann verstärkt in Dublin, Frankfurt oder woanders auf dem Kontinent stattfinden würden, glaubt Kesberg hingegen nicht. Dagegen spreche nicht zuletzt das Arbeitsrecht, das etwa in Frankfurt wesentlich rigider sei als in Großbritannien. "Aber was weiß man schon", sagte Kesberg, der von 2006 bis 2014 Wirtschaftsdelegierter in New York war, den Wahlsieg von Donald Trump aber auch nicht vorhergesehen hat.

"Keine Katastrophe"

"Alle Einschätzungen der künftigen Entwicklung in Großbritannien beruhen auf einer Vielzahl an Unbekannten", sagte Kesberg. Prognosen, die von einer Halbierung des kumulierten Wirtschaftswachstums bis 2020 ausgingen, erschienen ihm aber plausibel. Gingen Vorhersagen vor der Brexit-Entscheidung noch von einem Wirtschaftswachstum um die zwei Prozent pro Jahr bis 2020 aus, könnten es nun statt kumuliert zehn Prozent unterm Strich nur mehr fünf oder sechs Prozent sein.

"Vergleichbare Wachstumsraten hat es seit 2012 auch in Österreich gegeben – und es war keine Katastrophe", sagte Kesberg. In Großbritannien weicht das voraussichtliche Wachstum aber doch deutlich vom Potenzialwachstum ab, das vor dem Brexit-Beschluss erwartet wurde."

Österreich wenig betroffen

Weil die von Premierministerin Theresa May für spätestens Ende März 2017 angekündigte Einleitung des Austrittsverfahrens im vorgesehenen Zeitraum von zwei Jahren kaum zu schaffen ist, macht eine andere Spekulation die Runde: Die Briten könnten sich eine Verlängerung der EU-Mitgliedschaft um zwei Jahre erkaufen, indem sie weiter in das Brüsseler Budget einzahlten.

Die Auswirkungen des Brexit auf Österreich hält Kesberg für gering. Rund 250 österreichische Unternehmen sind mit eigenen Niederlassungen auf der Insel präsent, wegziehen will niemand.

Das Handelsvolumen zwischen Österreich und Großbritannien beträgt sechs Milliarden Euro und wurde zuletzt durch einen rasanten Anstieg der Motorenlieferungen aus dem GM-Werk in Wien-Aspern an das Opel-Werk Vauxhall gepusht. Größere Gefahr für Österreich drohe über Sekundäreffekte – wenn Deutschlands Wachstum gedämpft wird. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Österreichs. Für Deutschland ist Großbritannien der drittwichtigste Markt. (Günther Strobl, 14.11.2016)