Bei den täglichen "Säuberungen" im Razzien- und Einsperrland Türkei hat es nun erstmals auch eine größere Zahl von Hochschullehrern getroffen. Einer Hundertschaft von Dozenten aus so terrorverdächtigen Fachbereichen wie Statistik und Metallurgie wird vorgeworfen, der Bewegung des Predigers und angeblichen Putschistenchefs Fethullah Gülen anzugehören. Sie alle sollen auf einer Benutzerliste von ByLock gestanden haben, jener mäßig sicheren Smartphone-Anwendung, über die sich die Gülenisten für eine gewisse Zeit ausgetauscht hatten. Das zog nun Haftbefehle nach sich. So weit, so klar.

Aber in Wirklichkeit ist erst einmal nichts klar: Denn schon lange vor dem vereitelten Putsch im Juli hatte die konservativ-religiöse Führung in Ankara die Hochschulen im Visier. Erst ging es um das Kopftuch, dann um die Politik. Seit den Gezi-Protesten hielt der längst alles regelnde Hochschulrat YÖK nach aufsässigen Uni-Lehrern Ausschau. Präsidentenbeleidigung wurde ein leicht konstruierbarer Grund für eine Kündigung, die Unterschrift unter eine Friedenspetition ein Akt des Verrats am Staat.

Und so trifft der Bannstrahl aus Tayyip Erdogans Präsidentenpalast gleich mehrere Gruppen an den türkischen Hochschulen – verkappte Islamisten der Gülen-Bewegung, die Liberalen, die Altlinken, die kurdischen Dozenten, die ohnehin unter Generalverdacht stehen, mit der PKK zu paktieren. Die strafrechtliche Aufarbeitung des Putschs hat ein Klima der Furcht und der Denunziation geschaffen.

Scheint das Vorgehen diffus, so ist doch die Absicht im Lauf der vergangenen Monate deutlich geworden: Erdogan lässt die Universitäten in seinem Staat gleichschalten, nicht anders als die Medien, die großen Unternehmen, Justiz, Exekutive, alle sonstige Bürokratie, die eigene Partei sowieso. Die Türkei wird totalitär.

Freiheit der Lehre und autonome Verwaltung sind an den Hochschulen so unerwünscht wie kritische Wortmeldungen in Zeitungen und im Internet. Mit seinem jüngsten Notstandsdekret gab sich Erdogan das Recht, Hochschulrektoren selbst auszuwählen. Davon machte er nun auch Gebrauch und tauschte die Rektorin der renommierten Bosporus-Universität in Istanbul aus.

Mit dem 15. Juli, dem Tag des versuchten Militärcoups, hat das nicht viel zu tun. Schon weit mehr mit einem zivilen Gegenputsch. Der vereitelte Staatsstreich hat Erdogans Griff zur totalen Macht offenbar nur leichter gemacht. (Markus Bernath, 18.11.2016)