Wien – Schönberg hatte es sich gewünscht, dass alle seine vier Streichquartette zusammen mit vier späten Beethoven-Quartetten aufgeführt werden. Diese Ausgabe von Wien Modern, die erste unter der Leitung von Bernhard Günther, verfolgt solche historischen Spuren so gezielt, wie es das Festival seit Jahren nicht getan hat, und öffnet vielfache Perspektiven auf die und von der Gegenwart, auch mit Blick auf die Musikgeschichte, genauer: die Geschichte der Moderne in der Musik.

So war es nur folgerichtig, das Projekt noch mit einem weiteren zentralen Werk der Literatur zu bereichern, nämlich Pierre Boulez' Livre pour Quatuor, gespielt von jenem Ensemble, das dafür am berufensten erscheint, hat doch der Komponist mit dem Quatuor Diotima vor wenigen Jahren eine Aufführungsfassung der Partitur erstellt, die in den späten 1940ern wurzelt. Abend drei (von vier) brachte nach der Pause Beethovens cis-Moll-Quartett op. 131 in einem Zugang, der weder den Maßstäben der historischen Aufführungspraxis noch den romantisierenden Gewohnheiten folgte, sondern eher eine "Aktualisierung" zu suchen schien.

Wo Musik leuchtet

Zwar kamen die seelenvoll-elegischen Züge ebenso zu ihrem Recht wie die klassizistischen Anteile, doch lag der Fokus der Interpretation eindeutig auf der visionären siebenteiligen Form, der Markierung der Einschnitte und der extremen Akzentuierung von ungewöhnlichen Vortragsbezeichnungen. Auch wenn das Ergebnis nicht besonders idiomatisch klang, traf sich der Eigensinn der Ausführung doch mit jenem des Komponisten und bildete damit eine Brücke zu den Werkkomplexen des 20. und 21. Jahrhunderts: Während Schönbergs 3. Streichquartett op. 30 am Beginn des Programms durch seine dodekafonische Wohlgeordnetheit den Anschein eines wohlgeordneten Klassikers erhielt, bildete der zweite Teil aus Boulez' Livre das offizielle Kraftfeld des Abends:

Gestische Arabesken

Die komplexen gestischen Arabesken leuchteten in kristallinen Strukturen und bei vollkommener Klarheit, sodass es ins Bild passte, dass Helmut Lachenmann seinen Kollegen Boulez einmal einen Diamantsucher genannt hat. Hinsichtlich der Tonhöhen und Notenwerte mit Abstand die komplexeste Musiksprache, kam sie beim Quatuor Diotima paradoxerweise am stimmigsten zutage. Und das den Jahren nach aktuellste Werk wirkte durch die Kontrastierung mit älteren Werken noch wesentlich spannender als in einem rein zeitgenössischen Kontext. (Daniel Ender, 20.11.2016)