Die Schauspielerin Anne Bennent bringt die Worte ...

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... Ilse Aichingers in die Atmosphäre. Dort leben sie weiter und tun ihre Wirkung.

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STANDARD: Zehn Tage nach der Premiere Ihrer Hörspielfassung von "Die größere Hoffnung" auf Ö1 starb Ilse Aichinger. Ihr erster Gedanke?

Bennent: Ach, innerlich musste ich natürlich weinen, aber sie war doch schon 95, und ich wunderte mich, dass sie nicht schon früher gegangen ist. Sie hatte wohl einen Grund. Insofern ist es eine Freude, dass sie sich lösen konnte. Ich habe Ilse Aichinger nie persönlich kennengelernt, aber für das Hörspiel nahm ich in der Herrengasse, wo sie wohnt – wo sie immer noch wohnt – auf. Zu dem Zeitpunkt war dort eine riesige Baustelle, alles war voll Lärm und Staub. Da dachte ich: Jetzt wird es aber Zeit.

STANDARD: Wissen Sie, ob Aichinger das Stück hören konnte?

Bennent: Nach meinem Wissen war sie schon in einer anderen Welt. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie nicht vorher gestorben ist und ihren Geburtstag und das Hörspiel abgewartet hat. Es ist, als hätte sie gewartet, und ich hatte mir gewünscht, dass sie es vielleicht doch hörte, obwohl ich wusste, dass sie das Radio nicht eingestellt hatte.

STANDARD: Wann begann Ihre Faszination für ihre Texte?

Bennent: Es fing vor ungefähr 25, 30 Jahren an, als ich nach Wien gekommen bin, vorher kannte ich sie nicht. Das Erste, was ich von ihr las, war die Spiegelgeschichte, danach habe ich begonnen, alles von ihr zu sammeln. Mich faszinierte, wie jemand so schreiben kann.

STANDARD: Sie spricht Ihnen aus der Seele?

Bennent: Ja, sie trifft sehr das, wie ich mich gerne ausdrücken würde, wenn ich schreiben könnte. Wenn ich schreiben würde, wie ich die Welt wahrnehme, dann kommt das dem sehr nahe. Es gibt einige Autoren, bei denen es mir so geht, Robert Walser und Franz Kafka. Aichinger bewunderte Kafka sehr, und manchmal versuchte sie auch in seinem Sinn zu schreiben, denke ich. Ich habe eine Art Dichterfamilie, wirklich Freunde, die alle irgendwie miteinander zu tun haben in ihrem Schreiben, eine entfernte Verwandtschaft in ihrer Sicht auf die Welt.

STANDARD: "Die größere Hoffnung" ist Ihre erste Hörspielregie. Wie war das?

Bennent: Ich wurde nicht gerade ermutigt, viele sagten, sie trauten sich das nicht zu. Otto (Lechner, Musiker und Lebensgefährte Anne Bennents, Anm.) sagte, er mischt sich da nicht ein, davor hat er zu viel Respekt – und bläute mir damit einen Riesenrespekt ein, der aber wichtig war. Der Schriftsteller Peter Waterhouse lud mich vor einigen Jahren nach Graz zu einem Symposium über Ilse Aichinger ein, um aus dem Roman zu lesen. Die Passagen dafür blieben irgendwie der Kern des Stücks.

STANDARD: Wie war das Kürzen des Romans?

Bennent: Das Streichen war nicht einfach, aber ich hatte immer das Gefühl, Ilse Aichinger ist da, und sie hilft mir. Was ich nicht wollte, war eine rührende Kindergeschichte, bei der es um die Betroffenheit geht, dass die Kinder deportiert wurden. Das Buch ist Poesie, kein Holocaust-Bericht.

STANDARD: Die Geschichte lässt sich sehr heutig verstehen. War das auch ein Grund, sich damit auseinanderzusetzen?

Bennent: Ja, es ist gültig, ganz alt und ewig. Es ist die ewige Frage der Völkerwanderung, der Flucht, des Fremdseins und des Stigmatisiertwerdens. Ich dachte aber nicht: Ah, das ist aktuell, und das mache ich. Es hat mich vielleicht aus dem Grund getroffen.

STANDARD: Sie sagten einmal, die Figuren, die Sie spielen, rufen Sie. Wie rief die kleine Ellen aus "Die größere Hoffnung"?

Bennent: Das ist oft so, die wollen einfach etwas von mir. Sie möchten gerne, dass ich das Instrument bin. In dem Fall ist das Buch immer wieder aufgetaucht. Ich habe eine große Bibliothek, viele Bücher verschwinden einfach, andere die fallen mir immer wieder in die Hände, und dieses blaue Buch hörte nicht auf, da zu sein, irgendwie wollte es etwas.

STANDARD: Im Hörspiel arbeiten Sie auch mit Originalaufnahmen. Wie sind die entstanden?

Bennent: Das war ein Wunsch des ORF. Wir sollten keine reine Studioaufnahme mit Text und Musik machen, sondern die Möglichkeiten des Hörspiels nützen. Ich besorgte mir ein Aufnahmegerät und ging damit los. Auf Elba stand ich knietief mit meinen Blättern im Wasser, um die Szene mit den Kindern ohne Visum auf dem Schiff aufzunehmen. Otto stand daneben und nahm auf. Danach hat er im Nachhinein mit wenig Aufwand die Musik im Studio eingespielt.

STANDARD: Die Musik gibt das Tempo des Textes wieder, sie wird wilder und wilder.

Bennent: Das ist die Dynamik des Buches. Das Buch ist eine Spirale, die sich nach oben dreht, die eine unglaubliche Intensität entwickelt und sich nach oben öffnet wie ein Feuerwerk, Ellens Tod ein Sich-Zersplittern in tausend Stücke. Die Splitter sind lebendige Splitter. Diese Energie war mir wichtig, dass man den Anlauf nimmt, diese Grenzen zusprengen. Aichinger hat ja auch in ihrer Sprache Grenzen überschritten.

STANDARD: Hatten Sie ein Drehbuch für jede Szene, oder ließen Sie sich Raum für Zufälle?

Bennent: Ich hatte Vorstellungen, wie ich es gerne gehabt hätte. Aber dann ging ich an diesen Ort, und dann war alles ganz anders, standen da Bagger, die so laut waren, dass unmöglich an eine Aufnahme zu denken war. Dann wusste ich: Gut, sie will das nicht, also gehe ich woandershin. Manche Dinge werden einfach ausgeschlossen, und dafür ergeben sich andere, die ich mir nie hätte einfallen lassen können. Man wird geleitet.

STANDARD: Ist das so?

Bennent: Das hat etwas mit Glauben zu tun, mit Grundvertrauen. Man muss nur horchen, und wenn das, was man sich so vorstellt, nicht gelingt, dann führt einen das ja wieder woandershin.

STANDARD: Sie sagten einmal, dass Kompromisse Sie unglücklich gemacht haben.

Bennent: Da habe ich wahrscheinlich das Theater gemeint, ich sage lieber Halbherzigkeiten dazu. Wenn man aus Höflichkeit oder aus einer Art Sicherheitsdenken Dinge tut, die danach nicht aufgehen. Das passiert, wenn man an einem Theater fest engagiert ist.

STANDARD: Weshalb Sie alle Sicherheiten über Bord warfen?

Bennent: Ja, ich bin ja aus künstlerischen Gründen hingegangen. Ich mache ja die Dinge aus einer Notwendigkeit heraus.

STANDARD: Für wen ist es notwendig, was Sie machen?

Bennent: Es gibt Dinge, von denen ich weiß, dass es einfach niemand sonst machen kann. Wenn ich es nicht mache, dann macht es sonst niemand so.

STANDARD: Zum Beispiel "Die größere Hoffnung"?

Bennent: Ich habe eine Verantwortung als Künstlerin. Was ich in die Welt setze an Musik oder Sprache oder an Stücken, das ist Teil der Schwingungen in der Luft. Ich bin verantwortlich für die Wörter, die aus meinem Mund kommen. Sie sind in der Atmosphäre, und die wird von allen eingeatmet.

STANDARD: Im Theater aber eben nicht mehr so oft. Was hat Sie vertrieben?

Bennent: Von der Theaterwelt, die gerade sehr heftig arbeitet und produziert, gibt es im Moment keinen Ruf nach mir. Das ist logisch, es gibt dort, für das, was ich suche, keinen Raum. Ich möchte nichts produzieren, das fertig ist und gespielt wird. Mich interessiert mehr, was zwischen den Akteuren passiert als die Virtuosität des Akteurs und das verabredete Vokabular.

STANDARD: Das ändert sich manchmal beim schnöden Mammon.

Bennent: Ich habe ein Riesenglück, weil ich nicht darauf angewiesen bin, das große Geld zu verdienen. Existenzängste verweigere ich. Für mich ist das nicht schwer, weil ich ja gar nie dazugehört habe. Wir waren immer irgendwo Zigeuner. Ich bin die Erste in der Familie, die es gewagt hat, ein Haus zu kaufen. Meine Eltern waren entsetzt.

STANDARD: Weshalb?

Bennent: Besitz ist für einen Künstler eine Belastung. Manchmal sehe ich dieses große Haus und denke: Das gibt's ja gar nicht. Aber es ist wie mit den Texten. Das Haus brauchte uns dringend.

STANDARD: In den USA gibt es eine Debatte über Sexismus im Film- und Theaterbusiness. Wie sehen Sie das?

Bennent: Ich sehe das eher unter einem anderen Aspekt. Manchmal sitze ich im Theater und denke: Was ist mit den Weibern los? Wieso lassen sie sich so anziehen? Ich persönlich greife gern Männern ans Gemächt, einfach so, um zu sehen, wie sie darauf reagieren. Wenn mir einer unanständig die Zunge ins Maul gesteckt hat, dann habe ich ihn gebissen. Wo ist der Unterschied zum Blick des Zuschauers, der nur ins Theater geht, um zu wissen, welche Farbe deine Unterhose hat?

STANDARD: Oft hat es mit Machtverhältnissen zu tun.

Bennent: Tja, das ist aber traurig. Ich bin eine Frau, und das ist auch eine Form von Macht, denn ich habe damit die Möglichkeit, einen Mann kleinzumachen. Ich suche diese Erotik und die Berührung am Theater. Wenn mich ein Mann nicht angreift, bin ich beleidigt, und ich bin oft beleidigt, weil mich keiner angreift. Berührung findet heute auf der Bühne selten statt. Es wird brutalst rumgefickt, aber es wird etwas vorgeführt. Daran glaube ich aber nicht. Ich will auf der Bühne etwas Sinnliches.

STANDARD: Und gibt es den Ruf nach einer neuen Figur?

Bennent: Ich würde gerne das Hörspiel in ein Bühnenstück umsetzen, mit jemandem, der auf der Bühne Bilder in die Luft malt, unschuldig, wie ein Kind, hörend, was der Text sagt. Das ist mein Traum. (Doris Priesching, 2.12.2016)