Europa war nie so wohlhabend, so sicher und so frei." Mit diesen sonnigen Worten begann Javier Solanas Europäische Sicherheitsstrategie aus dem Jahre 2003. Nach der Einführung des Euro und knapp vor der großen mitteleuropäischen Erweiterung stand die EU im Zenit ihres Selbstbewusstseins. 13 Jahre später, als Federica Mogherini die neue Globale Strategie der EU vorlegt, hat sich der Horizont verdüstert. Mogherini spricht von einer "existenziellen Krise, innerhalb und außerhalb der EU". Die Welt sei "zunehmend vernetzt, konfliktreich und komplex". Aber diese schwierigeren Rahmenbedingungen sind für sie ein Ansporn, die europäische Außenpolitik dynamisch weiterzuentwickeln. Denn keines der EU-Länder kann die neuen Herausforderungen alleine meistern. Nur durch gemeinsame Anstrengungen unter Nutzung des gesamten Potenzials der EU können die Interessen der Europäer nachhaltig geschützt und die großen internationalen Fragen in ihrem Sinn mitgestaltet werden.

Zu diesem Zweck identifiziert die Hohe Beauftragte gemeinsame Interessen der EU: Friede und Sicherheit der Bürger, Wohlstand der Bevölkerung, Widerstandsfähigkeit der Demokratie und eine auf Regeln basierende Weltordnung. Als Grundsätze des außenpolitischen Handelns werden Einigkeit, Partnerschaft mit anderen und Verantwortungsbewusstsein vorgeschlagen.

Fünf Prioritäten der EU-Außenpolitik machen den Hauptteil des 60 Seiten umfassenden Dokuments aus:

  • die Sicherheit der Union in Bezug auf Verteidigung, Cybersicherheit, Terrorismusbekämpfung, Energie und strategische Kommunikation,
  • die Widerstandsfähigkeit ("Resilience") von Staat und Gesellschaft in der östlichen und südlichen Nachbarschaft,
  • ein integrierter Ansatz zur Bewältigung von Konflikten,
  • die Förderung regionaler Ordnungen, die auf Zusammenarbeit beruhen und
  • die Entwicklung einer globalen Ordnungspolitik für das 21. Jahrhundert.

Im Abschlusskapitel werden Ansätze für die Umsetzung der Strategie dargelegt. Um die Glaubwürdigkeit der Union zu erhöhen, sieht Mogherini vor allem Investitionen in allen Bereichen der Sicherheit und Verteidigung als notwendig. Die Union soll in die Lage versetzt werden, rascher und flexibler auf Krisen reagieren zu können. Der Austausch von Information und Analysen zwischen den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten soll ausgebaut werden. Schließlich wird – wieder einmal – die Notwendigkeit eines besser koordinierten Einsatzes der unterschiedlichen Instrumente der EU-Außenpolitik von Militäreinsätzen bis zur Entwicklungszusammenarbeit unterstrichen und eine engere Abstimmung zwischen den verschiedenen EU-Akteuren und zwischen EU und Mitgliedstaaten gefordert.

Außenpolitische Grundsatzerklärungen der EU waren traditionell von einem hohen Maß an Idealismus gekennzeichnet, dem oft wenig Umsetzungswillen gegenüberstand. Angesichts der nunmehr viel ernsteren Ausgangslage bemüht sich Mogherini um einen realistischeren Zugang, will dabei aber die Werteverpflichtung der EU-Außenpolitik nicht vernachlässigen. Das führt teilweise zu unscharfen Formelkompromissen wie der Überdehnung des Konzepts der "Resilience". Dieser Begriff, der als übergreifende Zielsetzung der EU für Partnerstaaten im Osten und Süden 34-mal im Dokument aufscheint, wird von Mogherini nicht nur als Widerstandsfähigkeit oder Krisenfestigkeit verstanden, sondern umfasst auch "Reformfähigkeit" (einschließlich demokratischer Strukturen und Wohlstand).

Dadurch kehrt die gesamte Werteagenda durch die Hintertür zurück, und die angestrebte "realpolitische" Akzentverschiebung wird relativiert. Dennoch wird insgesamt der transformative Anspruch der EU-Außenpolitik zugunsten des Schutzes der Interessen der EU-Bürger zurückgefahren, und es wird anerkannt, dass die Förderung der Demokratie in Drittstaaten letztlich von endogenen politischen Prozessen und Entwicklungen abhängt.

Als neuer Realismus ist auch die klare geografische Prioritätensetzung zu sehen. Das außenpolitische Engagement soll sich in erster Linie auf Europa, den Nahen Osten und das nördliche Afrika konzentrieren mit zielgerichteten Aktionen je nach Notwendigkeit darüber hinaus, wobei die EU natürlich in einzelnen Bereichen (Handel, multilaterale Diplomatie, Klimawandel) ein globaler Akteur ist und bleiben soll.

Auffällig ist die relativ hohe Ambition im Bereich der militärischen Sicherheit. Dabei steht der Ausbau der militärischen Kapazitäten und der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Mittelpunkt. Das Ziel der "strategischen Autonomie" erscheint nicht zuletzt in Hinblick auf das bevorstehende Ausscheiden Großbritanniens überzogen. Vage bleiben auch die Aussagen darüber, wofür die EU militärische Mittel eigentlich einsetzen sollte, sowie über die konkrete Aufgabenteilung mit der Nato.

Insgesamt ist die neue Strategie ein substanzielles Dokument, das durchaus geeignet ist, der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik Orientierung zu bieten. Dies wird allerdings von drei Faktoren abhängen:

· Machen sich die Mitgliedstaaten die wesentlichen Ideen wirklich zu eigen? Obwohl die neue Strategie von den Mitgliedstaaten begrüßt wurde, bleibt sie dennoch zunächst nur ein Papier der Hohen Beauftragten. Wenn den Worten Taten folgen sollen, werden in vielen Bereichen verbindliche Umsetzungsbeschlüsse erforderlich sein. Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

· Ist die krisengeschüttelte EU überhaupt in der Lage, sich systematisch mit außenpolitischen Fragen zu befassen? Schwere innere Krisen haben in der Vergangenheit die Außenpolitik der EU oft gelähmt. Diese Gefahr besteht auch heute. Die Umsetzung der Strategie muss deshalb mit Maßnahmen beginnen, die für die Lösung der aktuellen brennenden Probleme relevant sind. Sicherheit und Verteidigung, Migration und der Beitrag der EU zur Bewältigung regionaler Krisen stehen an erster Stelle.

· Euro- und Migrationskrise haben neue Spaltungen aufgerissen und damit auch die Solidarität gemindert, die für eine leistungsfähigere Außenpolitik notwendig wäre. Aber Federica Mogherini hat recht: In unserer globalisierten Welt ist eine effektive gemeinsame Außenpolitik nicht ein Traum von EU-Enthusiasten, sondern existenzielle Notwendigkeit. Es ist unklar, ob diese Einsicht ausreicht, die aktuelle zentrifugale Dynamik umzukehren. Aber es ist den Versuch wert. (Stefan Lehne, 9.12.2016)