Größere Vögel scheinen laut Schweizer Biologen erfolgreicher zu sein, wenn es darum geht, Windrädern auszuweichen.

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Wien – Die vergangenen Wochen konnten im Schweizer Jura recht unangenehm sein. Aus grauen Wolkendecken fiel kalter Regen, Tristesse überzog den sonst eher idyllischen Landstrich. Das Leben scheint langsam zum Stehen zu kommen. Dennoch herrschte im Luftraum über der Region vor allem nachts meist rege Aktivität. Zigtausende Zugvögel waren auf dem Weg in südliche Gefilde und nutzen dabei gern den Schutz der Dunkelheit – schließlich haben Beutegreifer wie der Habicht nach Sonnenuntergang Pause. Seit einigen Jahren jedoch lauert in der Finsternis eine ganz andere Gefahr. Der Mensch hat Windräder aufgestellt.

Windkraft mag als umweltfreundliche Methode zur Energieerzeugung enorme Vorteile bieten, die Errichtung neuer Anlagen führt trotzdem immer wieder zu Debatten. Oft werden die riesigen Propeller als optische Störung empfunden, man spricht auch von einer "Verspargelung" der Landschaft. Gleichzeitig bemängeln Naturschützer eine Bedrohung der Tierwelt. Vögel und Fledermäuse fallen den Rotoren zum Opfer. Wie groß die Risiken tatsächlich sind, ließ sich bisher nur schwerlich in Zahlen fassen.

Für die Schweiz wird ein Schwellenwert von jährlich maximal zehn getöteten Vögeln pro Windrad angepeilt, erklärt Felix Liechti, Biologe an der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Sind die Verluste höher, wären zukünftig Betriebseinschränkungen möglich. Die durch menschliche Aktivitäten verursachte Vogelsterblichkeit sollte durch die Windkraftanlagen um nicht mehr als ein Prozent erhöht werden. Insgesamt sterben aber auf eidgenössischem Territorium pro Jahr etwa eine Million Wildvögel einen nichtnatürlichen Tod. Diese Zahl beruht auf einer konservativen Schätzung, wie Liechti betont.

Unterschätztes Problem

Die Tragweite des Problems wurde anscheinend unterschätzt. Liechti und seine Kollegin Janine Aschwanden haben den Vogelschlag an Windrädern in direktem Zusammenhang mit dem Vogelzug erforscht. Es ist die erste Studie dieser Art weltweit. Drei Großturbinen in der Nähe des Dorfs Le Peuchapatte im Schweizer Kanton Jura dienten als Testobjekte. Der Ort liegt auf einem gut 1.100 Meter hohen Hügelrücken, das umliegende Gelände ist geprägt von Wiesen und relativ schmalen Waldstreifen. Die Landwirtschaft konzentriert sich traditionell auf die Viehhaltung.

Von März bis Mitte November 2015 suchte man den Boden unterhalb der Rotoren alle zwei bis drei Tage in bis zu 100 Metern Umkreis so genau wie möglich ab. Gezählt wurden alle Überreste von Säugern und Vögeln, mit Ausnahme einzelner Federn. Gleichzeitig erfasste weiter östlich eine Radaranlage die Flugaktivität. Kaum ein gefiederter Freund konnte unbemerkt vorbeikommen. Moderne Geräte sind sogar in der Lage, einzelne kleine Singvögel zu erfassen, berichtet Felix Liechti dem STANDARD. "Bis in circa 2,5 Kilometer Distanz."

Die nun veröffentlichten Untersuchungsergebnisse zeigen beunruhigend hohe Verluste auf. Insgesamt sammelte man an den drei Windrädern 20 Vogelschlagopfer ein. Elf davon waren Goldhähnchen der Gattung Regulus, was zu Deutsch Kleiner König oder Prinz heißt. Warum die Propeller gerade ihnen so häufig zum Verhängnis werden, ist allerdings noch ein Rätsel, meint Liechti.

Unter den sonstigen Getöteten fanden sich Vertreter dreier Drosselarten und zwei Stockenten. Nichts Größeres. Es gab keine erschlagenen Raubvögel, Störche oder Wildgänse – ein doch recht unerwarteter Befund. Die Diskussion über die Gefahren von Windkraftanlagen ist oft gerade auf solche Tiere fokussiert. Für sie scheint zumindest im Jura das Unfallrisiko überraschend gering zu sein. Die Forscher suchen nach Erklärungen: Kleinere Singvogelarten ziehen meist nachts, wenn die Sicht eingeschränkt ist. Deshalb könnten sie häufiger in die Räder kommen.

Klare Nächte bevorzugt

Die Fernflieger scheinen klare Nächte zu bevorzugen. Verkehrsdichten von bis zu 7.500 Vögel in der Stunde ließen sich dank Radar bei solchen Bedingungen pro Kilometer Geländestrecke ermitteln. Es waren jedoch auch welche bei Nebel und Schlechtwetter unterwegs. Ihnen dürfte schneller der Schlagtod drohen.

Natürlich wissen die Experten der Schweizerischen Vogelwarte Sempach, dass nicht jede Vogelleiche auch tatsächlich gefunden wird. So manche dürfte ungesehen geraubt werden. Um die damit verbundene Fehlerquote zu ermitteln, legten sie Testkadaver aus und stellten Fotofallen auf. Letztere erfassten Füchse, Katzen und Krähen als Aasfresser, aber auch Mäusebussarde und Rotmilane, die sich von den Rotoren offenbar nicht weiter stören lassen. Wahrscheinlich erkennen sie die Bedrohung und weichen ihr sofort aus. In die Kalkulationen bezog man sämtliche Unwägbarkeiten rechnerisch mit ein. Das Ergebnis: Im Durchschnitt fallen jedem einzelnen Windrad von Le Peuchapatte jährlich mehr als 20 Vögel zum Opfer – doppelt so viele wie der anvisierte Schwellenwert. Den Radarmessungen zufolge müssen pro Anlage allerdings knapp 1.000 Vögel in die Reichweite des Propellers geraten sein. Rund 98 Prozent von ihnen gelang es also rechtzeitig auszuweichen.

Man müsse aber einen kumulativen Effekt berücksichtigen, betont Felix Liechti. Zugvögel begegnen auf ihrem Flug durch Europa meist mehreren Windkraftanlagen. Wenn zum Beispiel 1.000 von ihnen an 40 Rotoren vorbei müssten und jedes Mal zwei Prozent sterben würden, blieben am Ende nur noch 500 übrig.

Die vorliegende Studie bietet lediglich einen ersten Einblick in die besagten Zusammenhänge. Sie lässt noch einige Fragen offen, auch wenn es klar erscheint, dass die Sterblichkeitsraten vor allem unter den kleinen Singvögeln höher sind, als bisher vermutet wurde. Die Ergebnisse lassen sich jedoch nicht direkt auf das Flachland oder auf alpine Standorte übertragen. In Abhängigkeit von den lokalen Verhältnissen können die Verluste dort stärker oder geringer ausfallen, meint Biologe Felix Liechti. Weitere systematische Untersuchungen müssen durchgeführt werden. (Kurt de Swaaf, 15.12.2016)