Vor mehr als einem Jahrzehnt haben sich die Staats- und Regierungschefs darauf verständigt, in ihre regelmäßigen Treffen eine gewisse inhaltliche Schwerpunktsetzung zu legen. Im Frühjahr kümmerte man sich verstärkt um Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit, im Winter eher um die Erweiterung, um die Außen- und Sicherheitspolitik.

Von EU-Gipfeln, die seit dem Vertrag von Lissabon 2009 von einem permanenten Ratspräsidenten organisiert wurden, sollten die großen Anstöße zu diesen Politikfeldern ausgehen. So wollte man die im Jahr 2004 durch eine große Erweiterung nach Ost- und Ostmitteleuropa stark überdehnte Gemeinschaft Zug um Zug weiterbauen.

So richtig funktioniert hat das nie. Eine Kaskade an tiefen Erschütterungen – oft von außen -, die die Union ausgehend von der US-Immobilien- und Finanzkrise seit 2008 fest im Griff halten, hat jede konzeptuelle europäische Politik, die über den Tag hinausginge, fast vollständig zum Erliegen gebracht. Von "großen Würfen" in Richtung eines Ausbaus der Demokratie, einer gemeinsamen Sozialpolitik oder Asyl- oder Außenpolitik kann gar keine Rede sein.

Die Krisen und Kriege in der Nachbarschaft von Marokko bis Syrien, die 2011 als kleine Revolte in Tunesien begannen und seit 2014 in mehreren Migrationswellen in Europa ankamen, taten ihr Übriges, um das Funktionieren der Politik in der EU zu lähmen. Man nannte diese vor gar nicht langer Zeit optimistisch noch "das gemeinsame Haus Europa unter einem Dach".

Davon spricht heute niemand mehr. Beim jüngsten EU-Gipfel zum Ausklang des politischen Arbeitsjahres 2016 ließ sich das deutlich ablesen: Es wird fast nur noch Papier verabschiedet, aber in der Substanz ist nicht viel da, was realisierbar wäre. Nationalstaaten blockieren, wo immer sie nur können.

Dabei hätten die Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten wahrlich einiges konkret zu tun und zu lösen. Aber was passiert (auch wenn es nur ein äußeres Anzeichen ist): Das Treffen wurde von ursprünglich zwei Tagen auf einen verkürzt. Der jüngste Gipfel markiert also wohl den Höhe- und Wendepunkt einer in Handlungsunfähigkeit erstarrten Gemeinschaft. "Es brennt an allen Ecken und Enden", das bekannte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Vorabend des Treffens im ZDF. Er meinte in Europa selber, vor allem aber an den Rändern, an den Außengrenzen. Doch es scheint so, als sei keiner seiner Mitspieler, kein Staatschef so richtig gewillt, ins politische Geschehen einzugreifen.

Geradezu schaurig zeigte sich das an der Art, wie die Europäer mit dem derzeit wohl größten Problem der Welt, den Kriegsverbrechen in Syrien, umgehen. Ein "kompletter Kollaps der Menschlichkeit" ereigne sich in Aleppo, hielt die Uno erst dieser Tage fest, auch für die Nachwelt.

Aber was tun die Chefeuropäer? Sie haben "erschüttert" den Bericht eines Politikers aus Aleppo angehört, humanitäre Hilfe erhöht. Dann ging man zum nächsten Thema über. Europa ist Zuschauer, nicht nur in Syrien, offenbar auch ein wenig in eigener Sache.

Das wirft nun die Frage auf, ob diese Haltung, die sich wie ein Fieber durch die sich radikalisierenden Gesellschaften in den EU-Staaten frisst, auch 2017 unverändert so weitergeht. Noch mehr offene Krisen – oder auch eine Wahl der extrem Rechten in Frankreich und eine Präsidentin Marine Le Pen – könnten das Ende bedeuten. (Thomas Mayer, 15.12.2016)