Die Amerikaner nennen das "die Blechdose die Straße weiter hinunterkicken" – also ein Problem, das gerade nicht gelöst werden kann, weiter vor sich herschieben. Die Europäer haben eine ihrer Blechdosen – das Problem mit der Türkei – jetzt mit dem Fuß weitergetreten. Nächstes Frühjahr soll es einen Türkei-Gipfel geben, so haben die Staats- und Regierungschefs der EU-28 beschlossen. In drei Monaten vielleicht wird über Visaliberalisierung, Flüchtlinge und die Zukunft der Beitrittsverhandlungen gesprochen, möglicherweise gar etwas entschieden. Das macht durchaus Sinn. Es hält die Türken im Spiel.

Aber es macht aus der Blechdose keine Blumenvase. Es ändert nichts an dem Befund, dass die Türkei heute nicht mehr die Türkei von 2005 ist, als die Beitrittsgespräche begannen. Nichts anderes lag der prinzipiellen Position von Außenminister Sebastian Kurz zugrunde, die im EU-Ministerrat zu einer Blockadehaltung wurde. (Die wahltaktische, auf die FPÖ schielende Überlegung des Außenministers sei hier hintangestellt.)

Das Grundkriterium für eine Kandidatur zum Beitritt in die Union erfüllt die Türkei heute nicht mehr: "Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten." Es ist das erste der drei Kopenhagener Kriterien für Länder, die Mitglied der EU werden wollen, so benannt nach dem Europäischen Ratsgipfel in der dänischen Hauptstadt 1993.

Wer glaubt denn ernsthaft, dass Tayyip Erdogan einmal verdutzt innehält und die Konzentration der Macht in seinen Händen, die Gleichschaltung des Staates rückgängig zu machen beginnt? Niemand. Die Türkei ist dabei, eine gewählte Autokratie zu werden.

Doch Staatskunst bedeutet auch, die Möglichkeiten der Zukunft ins Kalkül zu ziehen. Dies tun die Europäer. Denn auch Erdogans Regime ist endlich. Der türkische Staatschef wird vielleicht bis 2024 regieren, bei entsprechender Auslegung einer geänderten Verfassung gar bis 2029; wenn nicht eine große Wirtschaftskrise oder andere Umstände eine zweite oder dritte Amtszeit als Präsident verhindern. Ein Nachfolger mag konzilianter auftreten, vielleicht auch demokratischer denken. Für den Umgang mit der Türkei heute ist dies freilich eine unbefriedigende Antwort.

Gleichwohl heißt es in der EU: Zu reden sei besser, als zu sanktionieren, den Dialog aufrechtzuerhalten besser, als vom Tisch aufzustehen. Doch der aggressive, zum Teil vulgäre und erpresserische Ton aus Ankara signalisiert vor allem eines: An einem EU-Beitritt mit Kriterien und Verhandlungen sind wir nicht länger interessiert.

Es heißt zudem: Den Beitrittsprozess jetzt abzubrechen bedeute, den politisch liberalen, proeuropäisch denkenden Teil der Türkei mitzubestrafen, der türkischen Gesellschaft den europäischen Horizont wegzunehmen. Doch ebendas ist schon geschehen. Die EU hat mit ihrem jahrelangen Herumtändeln bei den Beitrittsverhandlungen die liberalen Türken im Stich gelassen. Sie hat Erdogan Argumente geliefert und seinen Griff zur Macht begünstigt.

Und es heißt schließlich: Die Türkei jetzt zu verprellen werde die Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens nach sich ziehen. Es ist das Argument der Erdogan-Versteher.

In Wahrheit liegt der Türkei-Beitritt bereits auf Eis. Der Rest ist Dichtung, Brüsseler Formulierungskunst. (Markus Bernath, 16.12.2016)