Üblicherweise bezeichnet der 80. Geburtstag in der katholischen Kirche das Datum, an dem auch verdienstvollste Würdenträger von ihren Aufgaben entbunden werden. Bei Bergoglio alias Papst Franziskus erinnert nichts an dieses Ablaufdatum. Er steckt voller Energie und wirkt geistig viel jünger und offener als die meisten anderen Figuren der Öffentlichkeit. Deshalb hoffen viele, dass dieser Papst, vielleicht die einzige globale moralische Instanz unserer Zeit, noch einige Jahre an der Spitze der Kirche bleibt. Eine kleine, aber einflussreiche Minderheit dagegen wünscht sich, dass Franziskus den 80. Geburtstag heute, Samstag, zum Anlass nimmt, um sein Amt niederzulegen.

Die Kirche, in ihrer Geschichte marketingerprobt, neigt dazu, ihre Päpste mit einem eingängigen Attribut zu belegen. Franziskus ist der "Papst der Barmherzigkeit". Diese Zuschreibung wird seinem Pontifikat gerecht. Der Aufbruch, der mit der Hinwendung zum zentralen Gottesprädikat der Bibel verbunden ist, liegt nicht nur in seinem enormen ökumenischen Potenzial, sondern auch in einer Erneuerung der symbolischen Ordnungen (Kultur, Moral, Struktur, Sprache etc.) der Kirche. Diese ist spätestens seit der Gegenreformation und dem damit verbundenen Barock durch ein gewaltiges ästhetisches Programm ausgezeichnet. Sie stellt sich als schöner, feingegliederter und bis ins Letzte geordneter Kosmos dar. Das Problem war, dass sich diese Ordnung in der Moderne als zunehmend brüchig erfuhr. Selbstbestimmungsrecht und Individualismus, der Legitimationsverlust "gottgewollter" Hierarchien und eine enorme Sensibilisierung für das Gewaltpotenzial umfassender Ordnungs- und Disziplinierungssysteme setzen der Kirche zu.

Das Besondere an Papst Franziskus ist, dass er den symbolischen Ordnungen der Kirche neuen Sinn gegeben hat. Unter dem Leitthema Barmherzigkeit stellt er die gesamte Tradition des Katholizismus in den Dienst der solidarischen Wahrnehmung von Verletzbarkeit. Der postmoderne Mensch ist fragil, weil viele der traditionellen Schutzmechanismen (Familie, Metaphysik, Kirche etc.) außer Kraft gesetzt wurden, und er antwortet darauf entweder in beständiger Virtualisierung von verletzter Welt oder – Bergoglios Weg – mit dem Eingestehen der Verletzbarkeit als erstem und entscheidendem Schritt eines solidarischen und barmherzigen Mitseins.

Für eine glaubwürdige Konkretisierung barmherziger Liebe benötigt die Kirche neue Formen der Institutionalisierung. Denn der Klerus ist weder quantitativ noch qualitativ in der Lage, die Kirche in diese Richtung zu leiten. Die Laien aber zählen nach wie vor in der Regel nichts. Die Kirche benötigt eine geistige Erneuerung, die sich nicht zuletzt daran misst, ob die "Barmherzigen", Armen und Verletzten in ihr einen Wohnort finden. Dazu hat sie ihre Strukturen radikal zu reformieren. Andernfalls wird sie für Jahrzehnte in völlige Belanglosigkeit verfallen und als Stimme im Kampf um eine gerechte Weltordnung ausfallen. Vielleicht ist das Pontifikat von Bergoglio ihre letzte Gelegenheit für eine diesbezügliche Neuausrichtung. (Kurt Appel, 16.12.2016)