Regisseurin Marie Noëlle (rechts) mit den SchauspielerInnen Karolina Gruszka und Samuel Finzi.

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Noëlle über Marie Curie: "Was mich unheimlich beeindruckt, ist diese Freiheit des Geistes, die sie hatte. Sie hat tatsächlich nach ihrem Gewissen gelebt."

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STANDARD: In ihrem Biopic über die polnisch-französische Physikerin und Chemikerin Marie Curie konzentrieren Sie sich auf ihren Kampf um Anerkennung in der von Männern dominierten Welt der Wissenschaft. Sind Sie im Zuge Ihrer Recherche auf Überraschungen gestoßen?

Noëlle: Das Protokoll der Académie des sciences aus jener Zeit, als sich Marie Curie um Aufnahme beworben hat, ist unfassbar. Dass gebildete Männer solche Aussagen tätigen, ist unglaublich. Der Ton war noch viel ruppiger und respektloser gewesen, als ich es im Film vermittelte. Natürlich hatte sie auch ihre Verteidiger. Aber für ihre Kritiker war eine Frau, die sich mit Physik beschäftigte, eine Nichtfrau. Männer wollten unter sich bleiben.

STANDARD: Wie nähert man sich einer historischen Figur wie Marie Curie an? Welche Fragen haben Sie im Vorfeld beschäftigt?

Noëlle: Das ist eine lange Geschichte, sie fängt bei mir als Mädchen an: Mit zehn Jahren bekomme ich eine Biografie von Marie Curie geschenkt. Ich bin absolut begeistert und verschlinge das Buch. Marie Curie wird Modell für mich: Ich möchte auch in die Forschung und auch etwas entdecken. Ich möchte auch, dass mein Mann Forscher ist. Marie Curie war wie ein Familienmitglied für mich, jemand, der mich sehr geprägt hat. Ich habe es damals ernst gemeint, machte Abitur am Marie-Curie-Gymnasium, studierte Mathematik, verliebte mich in einen Physiker, der am Marie-Curie-Institut arbeitete – mit dem ich dann Filme gemacht habe (lacht).

Schnitt. Nie im Leben dachte ich, dass ich einen Film über Marie Curie machen würde. Als ich gerade an meinem Film über Ludwig II. gearbeitet habe, stoße ich auf einen Zeitungsartikel, wo von Marie Curie und der Langevin-Affäre die Rede ist. Davon wusste ich zuvor nichts, das kam in keiner ihrer Biografien vor. Ich recherchierte und fand heraus, dass diese Geschichte 1910 ein Riesenskandal war. Es hat mich schockiert, wie Marie Curie, eine integere Forscherin und Nobelpreisträgerin, damals attackiert wurde. Die Hasstirade gegen sie war unglaublich. Ich war fassungslos. Ich begann mich für ihre Lebensart zu interessieren, ihre Gefühle, ihre Persönlichkeit. Ich suchte nach Originalmaterial. Sie hat viele Briefe verfasst und führte Tagebuch. Ihre Aufzeichnungen haben mich zutiefst berührt. Die Erinnerungen und die Trauer nach dem Tod ihres Mannes, Probleme mit den Töchtern oder im Labor. Sie hatte ein literarisches Talent. Plötzlich war dieses Bild da, und ich dachte, ich muss einen Film machen. Denn die Frau, die ich entdeckt habe, war so unglaublich modern.

STANDARD: Marie Curies oberstes Prinzip war: Sich nicht unterkriegen lassen, nicht von den Menschen und nicht von den Ereignissen.

Noëlle: Was mich unheimlich beeindruckt, ist diese Freiheit des Geistes, die sie hatte. Sie hat tatsächlich nach ihrem Gewissen gelebt. Was sie für richtig hielt, hat sie durchgesetzt. Weil ihre Tochter als Mädchen nicht zum Physikunterricht zugelassen wurden, hat sie eine ganze Schule gegründet. Das ist beeindruckend! Da ist ihre Modernität, ihre Zeitlosigkeit, die sich auch in ihrer Art, sich zu artikulieren und zu handeln, äußert. Marie Curie hat sich einen Dreck um Konventionen geschert. Ohne aufmüpfig zu sein, hat sie einfach ihr Ding gemacht. Sie war nicht zu biegen, nicht korrumpierbar. Das finde ich großartig.

STANDARD: Marie Curie war Pionierin. Noch immer sind Frauen eine rare Spezies in den Naturwissenschaften. Wo sehen Sie die Hindernisse?

Noëlle: Ich kenne viele fantastische Wissenschafterinnen – und frage mich immer: Wohin verschwinden sie später? Ich glaube nicht an das Märchen, dass alle Frauen nach ihrem Studium ausschließlich Kinder und Familienleben wollen. Die Betreuung der Kinder kann man organisieren und teilen. Familie und Arbeit ist kompatibel – natürlich mit zusätzlichen Strapazen, aber es gibt auch zusätzlich Kraft. In Frankreich ist die Vereinbarkeit einfacher. Hier gibt es ausreichend staatliche Kinderbetreuungseinrichtungen, deshalb bekommen die Französinnen auch mehr Kinder. Vielleicht sollte man sich dieses Modell zu Herzen nehmen.

STANDARD: Sie engagieren sich auch bei Pro Quote Regie, einem Zusammenschluss deutscher Regisseurinnen, die sich für eine Frauenquote einsetzen ...

Noëlle: Wir haben bei Pro Quote Regie eine Studie zur prozentuellen Verteilung der Regieaufträge im Film- und Fernsehbereich gemacht. Es ist schockierend, wie wenige Frauen hier vertreten sind. Ich sehe, dass Quoten notwendig sind, sonst bewegt sich gar nichts. Mehr Filme von Frauen würden die Vielfalt in unserer Gesellschaft fördern und den Blick differenzieren. Es geht nicht um Männer- oder Frauenfilme, jeder von uns hat feminine und maskuline Eigenschaften in sich. Es geht um eine ausgeglichene Vergabe der Aufträge und Gelder. Nehmen wir Kathryn Bigelow. Sie war die erste Regisseurin, die 2010 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Wie lange gibt es schon die Oscars? Seit mehr als siebzig Jahren!

STANDARD: Auch international regt sich Protest. Immer mehr Frauen in der Filmbranche machen das Geschlechtermissverhältnis zum Thema.

Noëlle: Ja, das finde ich gut. Wir kennen alle den großartigen Filmemacher Ernst Lubitsch. Aber wer kennt die großartige Filmregisseurin Alice Guy-Blaché? Sie war sozusagen sein weibliches Pendant. Sie hat über 200 Filme gemacht, mit großem Humor und super spannend. Warum ist sie verschollen und nicht Ernst Lubitsch? Das kann nicht nur Zufall sein. (Christine Tragler, 22.12.2016)