Europa müsse sich aktiver um die Entwicklung eines liberalen Islam bemühen, meint Josef Haslinger. In den Beziehungen zwischen der EU und Russland solle man den "Geist von 1990" wiederaufnehmen.

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STANDARD: Für Deutschland hat das Jahr mit den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht begonnen und mit einem islamistischen Anschlag in Berlin geendet. Sie leben in Leipzig, wo auch die Pegida-Bewegung aufmarschiert. In welchem Zustand erleben Sie die deutsche Gesellschaft derzeit?

Haslinger: Köln war ein großer Einschnitt. Ich glaube, dass die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel vor Köln eine Mehrheit in der deutschen Bevölkerung hatte. Die hat sie in der Kölner Silvesternacht verloren. Pegida und die AfD haben sehr profitiert von diesen Ereignissen. Der Anschlag nach dem Vorbild von Nizza heizt die Stimmung nun erneut an. Ein hoher Zaun um Deutschland herum wird den Terrorismus aber auch nicht stoppen.

STANDARD: Aber sind in der Flüchtlingskrise nicht auch sicherheitspolitische Fehler passiert?

Haslinger: Jeder hat gesehen und damit gewusst, dass die Einreise der Flüchtlinge sicherheitspolitisch absolut daneben war. Aber was war die Alternative? Hätte man die vielen Schutzsuchenden in Ungarn gegen den Zaun laufen lassen sollen? Ein Terrornetzwerk wie der IS wird auch bei restriktiven Kontrollen Wege finden, seine Leute zu aktivieren. Das größte Problem sind nicht die Flüchtlinge, sondern ein paar Hundert Deutsche, die beim IS zur Ausbildung waren und nun, zurückgekehrt, zu Stabsstellen des Terrors werden.

STANDARD: In Ihrem Roman "Opernball" von 1995 imaginierten Sie einen rechtsextremen Anschlag auf den Opernball. Würden Sie heute eher einen islamistischen Anschlag ins Feld führen?

Haslinger: Es interessiert mich weniger, die Dinge zu dokumentieren, als sie fortzuschreiben. Im Falle von Opernball beginnen die Terroristen zwar als Rechtsextreme, nehmen dann aber eine christlich-fundamentalistische Position ein, was ihren Rassismus aber nur gefährlicher macht. Wenn hinter dem Terrorismus eine Heilserwartung steckt, die sich ihre Mission bis hin zu den Seligkeiten des Märtyrertums ausmalt, wird es finster um die Aufklärung. Im Export der nötigen Kreuzzugsmentalität war das Kalifat jedenfalls erfolgreich.

STANDARD: Wie stehen Sie zu offen islamkritischen Autoren wie Michel Houellebecq?

Haslinger: Ich bin skeptisch, was pauschale Islamkritik betrifft. Die größte Opfergruppe islamistischen Terrors ist nach wie vor die der Muslime. Europa ist nicht nur das Ziel von Anschlägen, sondern auch der Immigrationsort des Arabischen Frühlings. Das wird sich auch auf die Entwicklung liberaler Formen des Islam auswirken.

STANDARD: Sehen Sie liberale muslimische Kräfte tatsächlich im Erstarken?

Haslinger: Je stärker der Islam pauschal angegriffen wird, desto mehr Menschen treibt man seinen radikalen Gruppen zu. Besser wäre es, die Entwicklung eines europäisch gesinnten Islam zu fördern, in dem Schiiten und Sunniten, wie zwei protestantische Denominationen, ihre Energien nicht in die Kriegsführung, sondern in die Spiritualität stecken.

STANDARD: Wie?

Haslinger: Bis vor kurzem wurden die Prediger aus dem Ausland importiert, weil unsere theologischen Fakultäten keinen großen Bedarf für islamische Spiritualität sahen. Ganz Europa hat achselzuckend zugesehen, wie in Bosnien die Moscheen und Gebetshäuser von Saudi-Arabien gebaut wurden. Diese Hegemonie lässt sich nicht einfach abschütteln, aber sie wird in der Konfrontation mit den hiesigen Lebensformen erodieren. Es sei denn, wir lassen es zu, dass sich Parallelgesellschaften entwickeln.

STANDARD: Die unerwartete Zuwanderung hat, gepaart mit der ökonomischen Krise, auch Sozialchauvinismus befeuert. Manche Ökonomen nehmen die Theorie von Joseph Schumpeter wieder auf, wonach ein solidarisch funktionierender Sozialstaat ein großes Maß an gesellschaftlicher Homogenität voraussetzt. Unterschätzen Linke und Liberale die Bedeutung kultureller Unterschiede?

Haslinger: Aus der Tradition heraus ist Schumpeters Theorie stimmig. Aber sie ist kein Zukunftsmodell. Das würde ja heißen, dass es in den USA völlig aussichtslos wäre, so etwas wie Sozialpolitik zu etablieren. Es kann schon sein, dass man die kulturelle Dimension unterschätzt hat. Aber wir haben auch einen großen Reformstau. Es ist uns nie gelungen, die Bildungsreformen der Ära Kreisky so weiterzuentwickeln, dass am Ende in Österreich wirklich alle Menschen gleiche Chancen haben. Dadurch, dass wir zum Beispiel keine starken Grundstrukturen der Sprachförderung haben, fallen nun die entsprechenden Strukturen, die wir für Flüchtlinge brauchen, viel mehr ins Gewicht.

STANDARD: Seit der Finanzkrise 2008, verstärkt durch die Flüchtlingsproblematik ab 2015 und den Brexit, sehen viele die EU auf Zerfallskurs. Wie ernst ist die Lage?

Haslinger: Sie befindet sich derzeit tatsächlich in einem Zerfallsprozess. Auf vielen Ebenen wollen sich manche Länder nicht mehr ans gemeinsame Regelwerk halten. Bevor weiter ausgetestet wird, wie rücksichtlos die europäischen Staaten wieder gegeneinander werden können, sollten wir lieber zurück an den Start. Auch was die Beziehung zu Russland betrifft. Die Vorstellung, dass durch Wirtschaftssanktionen irgendwann die Krim an die Ukraine zurückfallen wird, ist realitätsfern. 2001 hat Putin für eine Rede im deutschen Bundestag Standing Ovations geerntet. Damals hatten die deutsch-russischen Beziehungen noch Zukunft. Aber Deutschland, der brave Bündnispartner, hat sich von der Nato eine andere Linie vorgeben lassen. Politiker wie Egon Bahr oder Hans-Dietrich Genscher waren leider schon außer Dienst. Wir müssen zurück zum Geist von 1990.

STANDARD: Merkel hat die CDU politisch in die Mitte gerückt, sie ist von der SPD kaum zu unterscheiden. Die linke Philosophin Chantal Mouffe sieht in diesem Zusammenrücken einstiger Gegenspieler den Hauptgrund, warum Rechtspopulisten an Boden gewinnen. Sie fordert eine Rückkehr zur klaren Unterscheidbarkeit politischer Lager. Teilen Sie diese Einschätzung?

Haslinger: Ja. Und das ist vor allem ein Problem der Sozialdemokraten. Merkel hat ihre Partei in die Mitte gerückt und ihr damit eine Zukunft verschafft. Aber die SPD hat keine Zukunft, wenn sie in der Mitte bleibt. Als unter Reagan und Thatcher der Neoliberalismus populär wurde, wollte die Sozialdemokratie unbedingt an der Macht bleiben und ist dabei fast unkenntlich geworden. Jetzt steht sie vor der großen Herausforderung, ihren sozialen Internationalismus wiederzubeleben.

STANDARD: Aber auch Konservative haben ihre rechten Flanken teilweise preisgegeben. Die CSU versucht das auszugleichen.

Haslinger: Solange es der CSU gelingt, die AfD kleinzuhalten und gleichzeitig eine Art Burgfrieden mit der CDU zu wahren, wirkt sie mit ihrem hysterischen Herumgekreische sogar stabilisierend. Das Bündnis führt die Diskussionen in den eigenen Reihen und lädt zur Solidarisierung entweder mit Merkel oder mit Seehofer ein.

STANDARD: 1987 haben Sie mit Blick auf Österreich von einer "Politik der Gefühle" geschrieben. Rechtspopulisten haben ihr Spiel auf dieser Klaviatur perfektioniert. Sind die Gefühle, die andere Parteien vermitteln, zu schwach?

Haslinger: Wenn man alles – Gleichheitsgrundsatz, Menschenrechte, Flüchtlingskonvention – infrage stellen kann, dann fällt es natürlich leicht, einen wendigen Populismus zu entwickeln. Donald Trump ist aufgeblüht in dieser Rolle. Im Gegensatz zu Hillary Clinton hatte es der unterlegene Demokrat Bernie Sanders zu einer Art linkem Gefühlspopulismus gebracht, ohne die Menschen aufgrund ihrer äußeren und inneren Merkmale auseinanderzudividieren. Wenn die SPÖ unter Christian Kern das beherzigt, traue ich ihr bei der nächsten Wahl den ersten Platz zu. Was aber eine Allianz Kurz/Strache nicht unbedingt verhindern wird.

STANDARD: Politiker wie Trump, Erdogan oder Putin bedienen auch Rachegelüste in der Gesellschaft.

Haslinger: Neue Poltergeister sind an die Macht gekommen, die Gefühle wie Rache, Hass und Wut reaktivieren. In Zeiten der Krise beginnt das Kleinbürgertum eine alte Sehnsucht auszuleben: Es nun endlich einmal denen, die alles immer besser zu wissen meinten, heimzahlen zu können. Und es finden sich sofort auch diejenigen, die eine solche Entwicklung rechtfertigen. Das war immer so.

STANDARD: Die rechtskonservativen Regierungen in Polen und Ungarn verfolgen ihr nationalistisches Programm auch kulturpolitisch. Wird die Kulturdiplomatie innerhalb Europas, die viele schon für überflüssig hielten, wieder wichtiger?

Haslinger: Offenbar. Die Kulturforen der Botschaften hatten diese Rolle schon einmal vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Sie waren kleine Gucklöcher in die freie Welt. Und diese Funktion könnten sie jetzt wieder bekommen.

STANDARD: Gibt es etwas, das Sie 2016 optimistisch gestimmt hat?

Haslinger: Für mich als fußballbegeisterten Leipziger war es der Aufstieg des RB Leipzig, und für mich als politikverfangenen Österreicher war es der Sieg von Alexander Van der Bellen. (Stefan Weiss, 1.1.2017)