Wien – "Gedanken sind wie weiße Kaninchen. Kaum ist mehr als einer da, rammeln sie drauflos, und plopp! sind es hundert, und alle hoppeln durcheinander und knabbern meine Kabel an." So umschreibt der Held in Tom Zürchers Roman Der Spartaner jenes Problem, das ihn in ein psychiatrisches Privatsanatorium gebracht hat: einen Verstand, der, wie ein Arzt später sagt, die Welt "wie ein Schwamm aufsaugt" und stets "zum Faktischen das Mögliche" rechnet.

Er ist quasi einer jener Hochsensiblen, die sich gegen das "Funktionieren" in der Welt spreizen. Einer, der aber halt auch kein Künstler sein wollte. Zu allem Überfluss hat er just ein Wirtschaftsgymnasium besucht, eine Schule voller Ehrgeizler, wo der einzige Lichtblick der "Spartaner" sein konnte: dieser Schulkollege, der die Sympathien des Helden auf sich zog, weil er im "großen Bürgertheater" nicht mitspielen wollte und Freiheit durch Besitzlosigkeit propagierte. Unglücklicherweise fand dieser widerständige Mann der Worte auf einer Klassenzusammenkunft kurz nach dem Schulabschluss dann auch zu Taten, die eine Pistole einbezogen.

Obskurer Dreh- und Angelpunkt

Dieses Geschehnis bildet den Anlass für den Klinikaufenthalt – und den einigermaßen obskuren Dreh- und Angelpunkt des Buches. Der hübsche Witz an Zürchers Roman ist nämlich: Es gibt hier keine "objektive" Sichtweise, oder zumindest nur bedingt. Was der Leser bekommt, sind ausnahmslos jene Schriften, die der Protagonist im Rahmen seiner Behandlung anfertigte, wissend, dass sie von seinen Therapeuten gelesen werden. Dies ist einerseits introspektive Kurzprosa, und andererseits sind es Protokolle von Therapiegesprächen.

"Sie haben unser Gespräch ziemlich genau wiedergegeben." – "Ziemlich genau? Wortwörtlich!" – "Wohl nicht gerade, aber ..." – "Wetten?" Gleich zweimal verweist dieser schöne Dialog, der koketterweise mitaufgezeichnet ist, darauf, dass man die Wahrheit in diesem Roman mit Vorsicht zu genießen hat. Mehrfach betont der Held zudem, dass es ja nicht eine Wahrheit gebe, sondern hunderte.

Unter solchen Vorzeichen geht es also auf eine ausgedehnte Tour durch die Wahrnehmungswelt des charmanten Helden, in der mutmaßlich nüchterne Tatsachen mit blühender Fantasie durchsetzt sind. Es entfaltet sich ein Erzählflow, in dem konsistente, glaubwürdig anmutende Berichte unvermittelt in ein Dickicht führen können, in dem Erinnerungen an die Kindheit, die Schulzeit und den Spartaner mühelos mit Geschehnissen im Sanatorium verwachsen.

Kind, Verführer und Wortspieler

Um einen "Schnittchenlieferservice" geht es da, den die ambitionierten Klassenkollegen aufbauten, aber auch um eine Mutter, die sich stets vor allem darum scherte, was die Nachbarschaft dachte. Als grausames Kind zeigt sich der Held, wenn er einen Mitinsassen im Sanatorium frotzelt, während er bei seiner Ärztin den Verführer spielt und sie – nicht zuletzt über ein Übungsgespräch, in dem sie seine Mutter spielt – küsst.

Zu geradezu experimentallyrischen Momenten findet der Erzähler indes stets dann, wenn er der Wahrheit zu nahe kommt. Eine solche machte Zürcher seinem Roman dann nämlich doch zum Gravitationszentrum, und sie wird – fast möchte man sagen: leider – auch allmählich erschlossen. Anlass, dieses Buch zu lesen, muss diese jedenfalls nicht sein.

Dessen wesentlicher Reiz liegt in der Art und Weise, wie der Held mit seinen hunderten Wahrheiten jongliert, um mit den Adressaten seiner Schriftstücke (erstens seinen Therapeuten und zweitens uns Lesern) "Spielchen" zu spielen. Und in der Frage, wie sehr dem hypersensiblen Wortspieler, dessen Leiden an der Sprache gelegentlich auch an Peter Handkes Torwart Bloch erinnert, zugleich von seinen meisterhaft erschaffenen Konstrukten mitgespielt wird. (Roman Gerold, 8.1.2017)