Die Euphorie war schon zu spüren am Sonntag im Berliner Willy-Brandt-Haus, als Martin Schulz seine erste Rede hielt. Da stand einer, der den Sozialdemokraten die Hoffnung hinhält, wie einst der heilige Martin einem Bettler den Mantel – auf dass es wärmer werde.

Die Lobgesänge auf Schulz – Spiegel schreibt von "Sankt Martin", die Bild-Zeitung von "Martinmania" – sind zwar schön für den derart Gepriesenen, doch sie zeigen auch, wie bitter nötig die einst so stolze Partei einen Hoffnungsträger hat. Nach drei Jahren als Juniorpartnerin von Kanzlerin Angela Merkel ist sie verzagt und mutlos, weil es in den Umfragen einfach nicht bergauf gehen will.

Und dann kommt Schulz – und schwups liegen zwar Union und SPD noch nicht gleichauf, doch holt Schulz bei der Frage nach der Direktwahl gleich einmal auf. Kein Wunder, dass die SPD auf einer zartroten Wolke schwebt.

Seine Antrittsrede war durchaus wohlgefällig – nicht nur für sozialdemokratische Ohren, sondern auch für den Mittelstand. Die Tüchtigen, die sich an die Regeln halten, will Schulz umwerben, ihnen will er zu mehr Gerechtigkeit verhelfen. Es wird also ein Kampf um Deutschlands Mitte, auf diese zielt auch Merkel ab. Beide wissen: Mehrheiten gewinnt man nur dort und nicht an den Rändern.

Apropos Merkel: Hier zieht Schulz erste Konfrontationslinien. Offenbar ist er nicht gewillt, Merkel persönlich hart anzugreifen. Er ist zwar nicht in die Kabinettsdisziplin eingebunden, aber er scheut davor zurück, weil Merkel trotz ihrer Asylpolitik immer noch beliebt ist. Da kann man sich leicht die Hände verbrennen, also streicht Schulz lieber den Dauerstreit zwischen CDU und CSU heraus.

Nicht ungeschickt ist sein Umgang mit seiner Herkunft. Er war in Deutschland ja nie "mehr" als Bürgermeister der 40.000-Einwohner-Stadt Würselen, Matura hat er auch nicht. Daraus macht Schulz eine Tugend, beschwört den sozialdemokratischen Musteraufstieg und erklärt, als Kommunalpolitiker sei man ohnehin am nächsten dran an den Menschen. Im Moment reicht das für die Begeisterung.

Doch wenn diese sich erst einmal legt und der Alltag kommt, werden sich auch Schwächen zeigen: etwa dass Schulz kein Rederecht im Bundestag hat und vielen für das verhasste Europa steht. Unklar ist vor allem, welche bundespolitischen Pflöcke er einschlagen will. Bald wird der "heilige Martin" aus seinem warmen Mantel ein paar konkrete Konzepte hervorholen müssen. (Birgit Baumann, 29.1.2017)