Wien – Es ist ein folgenschweres Verbot, dass die Ärztin Jenny (Adèle Haenel) ihrem Praktikanten gegenüber ausspricht. Die Praxis ist bereits seit einer Stunde geschlossen, als es an der Türe läutet und Jenny aus einer schlechten Laune heraus nicht erlaubt zu öffnen. Als am nächsten Tag zwei Kriminalbeamte bei ihr auftauchen und die Bilder ihrer Überwachungskamera des Eingangsbereichs sehen wollen, wird es zur traurigen Gewissheit: Jenny hat jener jungen Afrikanerin nicht geöffnet, die in der Nähe ihrer Praxis tot aufgefunden wurde.

Rätseln über das Bild einer Namenlosen: Adèle Haenel befragt Olivier Bonnaud als Praktikanten nach dem toten Mädchen.
Foto: Polyfilm

Das unbekannte Mädchen (La fille inconnue) beschreibt in der Folge die Suche nach der Identität der möglicherweise Ermordeten, die Jenny aus schlechtem Gewissen und auf eigene Faust beginnt. War sie eine Patientin ihres Vorgängers, dessen an einer Einfahrtstraße von Lüttich gelegenen Praxis die aufstrebende Ärztin nur für kurze Zeit übernommen hat, bis sie mit einer ihr in Aussicht gestellten lukrativen Stelle die Karriereleiter emporsteigen würde können? Und sind es tatsächlich bloß Selbstvorwürfe, die bei ihr einen Gesinnungswandel auslösen und sie veranlassen, die Nöte ihrer Patienten plötzlich mit anderen Augen zu sehen?

Die Sozialdramen von Jean-Pierre und Luc Dardenne zeichnen sich seit mehr als zwanzig Jahren und Filmen wie La promesse (1996) oder Rosetta (1999) durch eine andere Form der Investigation aus, nämlich durch eine gesellschaftskritische: durch einen realistischen Blick auf die Verhältnisse, erzählt anhand von Geschichten, von denen man meint, sie seien direkt aus dem Leben gerissen.

Moralische Rückbesinnung

Das war bislang die größte Stärke dieser auch ästhetisch charakteristischen Arbeiten, in denen das belgische Brüderpaar mit der Handkamera seinen Figuren – und oft Heldinnen – buchstäblich auf Schritt und Tritt verfolgte. Erst durch die unmittelbare Nähe zum Geschehen, zu diesen Kämpfen des Alltags, stellte sich jene unverwechselbare Authentizität dieser oft preisgekrönten Arbeiten ein.

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Doch diese Methode stößt in Das unbekannte Mädchen allerdings an ihre Grenzen, wie bereits im Vorgänger ansatzweise zu erkennen war. War es in Zwei Tage, eine Nacht Marion Cotillard, die als Fabrikarbeiterin ihre Kollegen dazu bringen musste, gegen ihre Entlassung zu stimmen, wird nun Adèle Haenel mit einer Aufgabe betraut, bei der ihr die Zeit davonläuft. Doch ihre parallel zu den polizeilichen Ermittlungen geführten Nachforschungen führen weniger zu einer Milieubeschreibung als zu einer szenenhaften Bestandsaufnahme.

"Ein guter Arzt muss seine Gefühle im Griff haben", meint die Ärztin einmal, während Das unbekannte Mädchen gleichzeitig davon erzählt, wie just ein diffuses Gefühl von Schuld in moralische Rückbesinnung mündet. Für die Tote, ihre Herkunft und das Milieu, das sie an diesem Abend vor Jennys Tür getrieben hat, interessiert sich dieser Film indes kaum.

Dass die Dardennes den Fokus ihres Films auf Adèle Haenel als französische Starschauspielerin richten, mag in der Natur der Sache liegen. Dadurch richten sie ihn allerdings auch nur noch skizzenhaft auf jene Welt der sozial Schwächeren, die sie guten Gewissens betreten wollen. (Michael Pekler, 7.2.2017)