Wien – Ewangelina sitzt auf einem mit gelber Bettwäsche überzogenen Bett in einem kleinen Raum. Hinter ihr an der weißen Wand hängen Poster mit Ponys und Einhörnen in grellen Farben. "In keiner anderen Wohnung hatte ich bis jetzt weiße Wände", erzählt die 36-Jährige: "Bei uns hat es ausgesehen wie in einem mexikanischen Haus. Jede Wand hatte eine andere Farbe."

Ewangelina und Sarah wohnen seit September in der Kastanienallee.
Foto: Fonds Soziales Wien

Seit September 2016 lebt Ewangelina mit ihrer acht Jahre alten Tochter Sarah nun in dem kleinen Zimmer in der Unterkunft für wohnungslose Familien in der Kastanienallee in Wien-Meidling. Das rund 100 Jahre alte Haus, das "Wieder wohnen" – eine Tochter des Fonds Soziales Wien – seit 2005 als Übergangswohnheim nutzt, bietet das ganze Jahr über Platz für 44 Familien. "Eine Familie ist bei uns mindestens eine Mutter oder ein Vater und ein Kind", sagt Heimo Rampetsreiter, Leiter der Einrichtung. Durchschnittlich ist eine Familie 3,2 Köpfe groß.

Selbstversorger im Heim

Drei Sozialarbeiter und zwölf Betreuer stehen rund um die Uhr zur Verfügung. Das Ziel der Einrichtung ist es jedoch, die Eigenverantwortung der Elten in den Notsituationen zu stärken. "Die Familien sollen so leben wie sonst auch", sagt Rampetsreiter. Pro Stockwerk gibt es Zimmer für sechs Familien. Diese teilen sich Bad, Toiletten und eine Gemeinschaftsküche mit drei Kochstellen, die sich jeweils die Bewohner von zwei Zimmern teilen. Die Familien, die hier leben, sind "Selbstversorger": Nahrungsmittel und Hygieneprodukte besorgen sie selbst. Spielzeug und Kleider gibt es bei Bedarf vor Ort. Falls das Geld einmal nicht für das Notwendigste reicht, wird auch Essen zur Verfügung gestellt. Einmal pro Woche hat jede Familie zwei Stunden Zeit, um im gemeinsamen Waschraum die Wäsche machen. "Die Waschmaschinen laufen hier rund um die Uhr", sagt eine der Betreuerinnen.

Marijana und Michael spielen in einer Gemeinschaftsküche der Kastanienallee.
Foto: Fonds Soziales Wien

Schon ein Jahr vor ihrem Einzug, im November 2015, verloren Ewangelina und ihr Kind die gemeinsame Wohnung im elften Wiener Gemeindebezirk. Sie habe bereits zwei Monate zu wenig verdient, erzählt Ewangelina, auch der Antrag auf Mindestsicherung sei noch nicht bearbeitet gewesen: "Wenn man sich keine 400 Euro für die Miete leisten kann, fehlt einem das Mindeste."

Die kleine Familie wurde infolgedessen delogiert und kam für ein Jahr bei der Großmutter unter. Dann suchte Ewangelina Hilfe bei der Stadt. Die Familiensituation "ging nicht mehr". Die "Omi" brauchte mit 90 etwas mehr Ruhe. Nach nur sechs Wochen fanden die beiden einen Platz in der Kastanienallee. "Wir kommen mit allen gut zurecht", erzählt die Alleinerzieherin. Auch Sarah hat Gefallen an der Wohnsituation gefunden: "Man kann einfach nebenan anklopfen." Nebenan bedeutet: bei ihrer zwei Jahre älteren Freundin. Von den vielen Kindern, die im Stock wohnen, hätte immer eines Zeit zum Spielen. "Die Kinder finden sich, egal welche Sprache sie sprechen. Mit ein paar Glitzerstickern und Buntstiften beschäftigen sie sich schnell gemeinsam."

Gegenseitige Unterstützung der Eltern

Bei der Kinderbetreuung unterstützen sich die Eltern im Haus. Hat jemand kurz keine Zeit oder muss arbeiten, schauen die anderen Mütter mit auf die Kinder. "Wir sind seit fünf Jahren zu zweit, wir sind ein gutes Team", sagt Ewangelina, die einen kleinen Korb mit Essen und Getränken gepackt hat, um ihn zur Nachbarin mitzubringen. "Sarah macht es Spaß mit den vielen Kindern. Da hat sie mehr Beschäftigung als als Einzelkind."

Im Durchschnitt leben die Familien etwa drei bis vier Monate in dem Übergangswohnheim. Währenddessen wird eine passende Wohnform gesucht, etwa betreutes Wohnen, eine Unterkunft über Housing First oder eine Gemeindewohnung.

Winterpaket

Zusätzlich gibt es über das "Winterpaket" der Stadt Wien von November bis Ende April vier Zimmer für Familien. Plätze über das Winterpaket können auch EU-Bürger, die keinen Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung oder Sozialhilfe haben, erhalten. Diese "nichtanspruchsberechtigten" Personen, die in Wien obdachlos und akut hilfsbedürftig sind, können so einen temporären Schlafplatz bekommen.

Ebenfalls über das Winterpaket der Stadt Wien werden die Kapazitäten der Nachtquartiersplätze von 300 auf 1.100 Plätze erhöht, und die ganzjährigen 540 Tagesplätze werden um 150 zusätzliche erhöht. Insgesamt gab der Fonds Soziales Wien 2016 rund 67 Millionen Euro für die Wiener Wohnungslosenhilfe aus.

Tee und Wärme

Eine der zusätzlichen Tageseinrichtungen ist die Wärmestube in der Apollogasse in Wien-Neubau, die Mitte Dezember ihre Pforten geöffnet hat. Von 9:30 bis 16:30 Uhr gibt es hier für 50 Leute Platz zum Aufwärmen, warme Getränke und Verpflegung. Zwölf Betten stehen in einem kleinen Ruheraum zur Verfügung. "Wir sind ein niederschwelliges Angebot. Hier können Menschen anonym vorbeikommen und ihre Zeit verbringen", sagt Brigitte Grulich, Teamleiterin der "Wieder wohnen"-Wärmestube. Die Einrichtung ist für obdachlose Erwachsene gedacht. Ist sie ausgelastet, darf niemand mehr in das ehemalige Seniorenzentrum hinein und es wird geschlossen, bis wieder Platz ist. "Wir haben ab zehn Uhr schon Schließzeiten. Eigentlich sind wir immer ausgelastet", sagt Grulich.

Ein Stammgast ist Nikolaus. Der 58-Jährige kommt zweimal pro Woche vorbei. Der gebürtige Tiroler musste nach Erbstreitigkeiten und Schulden sein altes Zuhause gegen eine Notschlafstelle tauschen. Seit fünf Jahren lebt er "so halb auf der Straße".

Nikolaus kommt zweimal pro Woche in die Wärmestube.
Foto: Fonds Soziales Wien

Vor fünf Monaten hat er einen Fixplatz in einer Obdachlosenunterkunft bekommen. Das Zimmer mit sechs Quadratmetern nutzt er aber vor allem nachts. Sonst hat der gelernte Tischler "eh immer was zu tun". So hilft er Freunden bei Tischlerarbeiten oder lernt im Sommer "an der Donau" mit Flüchtlingen Deutsch. "Da gibt es eine Moschee, davor treffen wir uns und lernen, oder ich helfe ihnen bei Briefen, die sie schreiben müssen." Sonst kocht er gerne für sein Stockwerk oder geht seiner zweiten Berufung nach: Bei einer "Kräuterhexe", wie er sie nennt, hat er viel über Heilkräuter gelernt und macht Tees für die kleinen Wehwehchen seiner Mitbewohner. "Ich bin der Knödelmacher und das Kräutermandl bei uns im Wohnheim." (Oona Kroisleitner, 9.2.2017)