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Kinder in der Niederlausitz in sorbischer Tracht, die alljährlich im Jänner das Fest der Vogelhochzeit feiern.
Foto: AP / MATTHIAS RIETSCHEL

Zweisprachige Ortsschilder wirken auf mich elektrisierend. Österreich wurde zu meinen Lebzeiten zweimal von einem "Ortstafelstreit" erschüttert. Im Bundesland Kärnten sollte der dort ansässigen slowenischen Minderheit ihr in der Verfassung garantiertes Recht auf zweisprachige Beschilderung gewährt werden, einmal in den Siebzigerjahren des vergangenen und wiederum zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Diese unschuldige Maßnahme wühlte einen Nationalitätenkonflikt auf, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte, und wurde von rechten Politikern instrumentalisiert, um jene auf die Barrikaden zu bringen, die von Geschichte keine Ahnung hatten. Es gab Proteste und Sabotage, immer wieder wurden die Schilder abmontiert. Am Ende bekannte sich der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider zum Verfassungsbruch und versuchte mit allen Mitteln, die slowenische Beschriftung der Ortstafeln zu verhindern. Erst 2010 setzte sich die Republik durch, und die Tafeln blieben dort, wo sie hingehörten.

Zweisprachige Ortsschilder sind das Erste, was mir in der Lausitz auffällt, und ich erfahre, dass es sich auch hier um eine autochthone slawische Sprache handelt: das Sorbische, auch Wendisch genannt, die Sprache der Sorben bzw. Wenden.

Niemand spricht diese Sprache

Der alte und lange Zeit einzige Begriff für die österreichischen Slowenen war "die Windischen". "Windisch" ist ein vom Nomen "Wenden" abgeleitetes Adjektiv. Das Wort "Wenden" wiederum geht auf ein anderes für die Germanen "fremdes" Volk, die Veneter zurück. Sollte ich hier in der Niederlausitz in einem Paradies germanisch-slawischer Koexistenz gelandet sein? Nicht nur Orts- und Straßenschilder sind zweisprachig – fast überall, wo Texte zu finden sind, nicht zuletzt im touristischen Bereich, findet sich auch eine Übersetzung in das Niedersorbische, das entfernt wie das Polnische aussieht. Tatsächlich soll es weitläufig mit dem Polnischen verwandt sein, während das weiter südlich beheimatete Obersorbische dem Tschechischen ähnelt. Das Seltsame ist nur: Nirgendwo trifft man auf jemanden, der diese Sprache spricht. Man trifft auch niemanden, der jemanden kennt, der des Sorbischen mächtig wäre.

Ach, diese Schilder und das alles, das sei nur wegen der Tradition, heißt es. Was also hat es mit dieser Zweisprachigkeit, die eine folkloristisch fingierte zu sein scheint, auf sich?

Endlich finde ich einen älteren Herrn, der sich immerhin erinnert: Wenn in seiner Kindheit seine beiden Großmütter miteinander oder "mit anderen alten Frauen" sprachen, verwendeten sie noch das Sorbische. Sein Vater konnte Sorbisch noch verstehen, aber nicht mehr sprechen. Er selbst beherrscht Sorbisch weder aktiv noch passiv.

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Balaka: "Ich komme aus einem Land, in dem die Tracht Alltag ist. In der Kindheit in Salzburg hatten wir Dirndln und Lederhosen an."
Foto: Picturedesk / Franz Neumayr

"Dann sind Sie also Sorbe?", frage ich, auf die Großmütter verweisend. Er überlegt lange. "So gesehen – ja", sagt er dann. Es ist so eine Sache mit der nationalen Identität. Assimilation bedeutet, dass Völker sich in andere verwandeln. Ein Sorbe, der nicht Sorbisch spricht und auch keine Tracht trägt, sieht ja nicht anders aus als ein Deutscher. "Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge sind etwa 25 Prozent der Deutschen wendischer Abstammung", heißt es in einer Broschüre des Wendischen Museums in Cottbus/Chósebuz. Und selbst als das Sorbische noch Alltagssprache war (heute ist nur mehr das Obersorbische in der Gegend um Bautzen, Kamenz und Hoyerswerda in Gebrauch), wurde mit der Tracht schon getrickst.

In Berlin, Potsdam und Dresden galt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die sorbische Amme als Statussymbol. Mit ihrer spektakulären Tracht, die von zu ausladenden Hauben fixierten Kopftüchern gekrönt wurde, waren die Spreewald-Ammen bei ihren Spaziergängen mit den Kinderwägen unübersehbar. Es wird berichtet, dass weniger wohlhabende Familien der Bourgoisie sogar allerlei Verzicht betrieben, nur um sich die als besonders gesund und fleißig geltenden Luxus-Dienstbotinnen leisten zu können. Andere wiederum griffen zu der List, sich eine günstigere Amme aus anderen Teilen Deutschlands zu holen und sie in eine sorbische Tracht zu stecken, um wenigstens den Schein zu wahren. Vollends bizarr wurde der Kult allerdings, als ein zurückgekehrter Kolonialbeamter seine aus Afrika mitgebrachte schwarze Amme in Spreewaldtracht auftreten ließ, welche bei ihren Spaziergängen auf dem Kurfürstendamm großes Aufsehen erregte.

Hektische Maßnahmen

Mit Sprachen kann es einhergehen wie mit Tieren: Jahrhundertelang versucht man sie auszurotten, und wenn es dann fast gelungen ist, setzt man hektische Maßnahmen, um sie am Leben zu erhalten. Die aktive Förderung des Sorbischen ist eine relativ rezente Erscheinung. In der viele Jahrhunderte alten Geschichte dieses slawischen Volkes setzte sie erst spät, nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg, ein. Mit der Losung "Die Lausitz wird zweisprachig" bekannte sich die DDR zu dem paradoxen Versuch, etwas wiederherzustellen, das eben erst im Dritten Reich der effizienten Auslöschung preisgegeben war.

Was das Niedersorbische betraf, war es zu spät. Für die neugegründete niedersorbische Sprachschule in Byhleguhre konnte man nur mit Mühe eine ausreichende Zahl an Kursteilnehmern finden. Oft waren diese dann Deutsche, die sich mit dem Besuch der Kurse für höhere Verwaltungsposten zu qualifizieren hofften. Erhebungen in der niedersorbischen Bevölkerung ergaben eine resignierte Haltung: "Lasst uns endlich zufrieden, wir wollen keine Sorben sein", oder: "Überall wird Deutsch gesprochen, da brauche ich nicht die sorbische Sprache", wurden als Argumente gegen den Besuch der Schule angeführt.

Die Tracht als Kostüm

Die umfangreichste Exhumierung des Niedersorbischen fand jedoch erst nach der Wende statt. So wurde das Rathaus in Cottbus/Chósebuz erst im Jahr 2000 zweisprachig beschriftet, das Stadthaus 2004, zweisprachige Straßenschilder wie "Wendenstraße – Serbska droga" stammen aus dem Jahr 2001.

Die Sehnsucht nach Tradition, Bodenhaftung, Regionalität und Alleinstellungsmerkmalen in der globalisierten Gesellschaft ist groß. Ob es nun Deutsche oder Sorben sind, die bei den großen Trachtenfesten die Tracht als Kostüme anlegen oder bei den traditionellen Osterritten mitreiten, ist nicht mehr relevant. Die Assimilation geht in beide Richtungen, führt durch permeable Membrane und mischt alles durch. Und doch ist die Aneignung des Pittoresken nicht neu. Schon die Nazis, große Freunde von Trachten und Lokalkolorit, veranstalteten jährliche Spreewaldfeste, um die sorbische Bevölkerung als "ein lebendiges, starkes Stück des großen deutschen Volkstums" zu präsentieren. Nachdem in einer ersten Phase die sorbische Sprache verdrängt worden war, behauptete man ab 1936 kurzerhand, bei den Sorben handle es sich um einen "deutschen Volksstamm". Auch hier dienten Ortsnamen der Faktenschaffung, sie wurden eingedeutscht: aus Horka wurde Wehrkirch, aus Kreba Heideanger, aus Mücka Stockteich usw.

Karl-Markus Gauß, der die Sorben in seinen Band Die sterbenden Europäer aufnahm, geht mit den gegenwärtigen Retrotendenzen, die sowohl der Selbstvergewisserung als auch dem nach der Wende neu erwachten Tourismus dienen, hart ins Gericht: "Längst ist in der Niederlausitz der kuriose Zustand eingetreten, dass sich ein Volk geradezu wütend in die Folklore flüchtet, weil es sich nur mehr in dieser zu entdecken vermag. Periodisch wird Heimattreue aufgeboten, doch indem die Vergangenheit als Illusionsstück von heute gespielt wird, gerät sie noch nachträglich in den Verdacht, immer schon eine Lüge gewesen zu sein."

Ohne Gewaltanwendung eliminiert

Ein Mutterland ist nicht dasselbe wie ein Vaterland. Die Auslandsdeutschen Anfang der Dreißigerjahre hatten in Deutschland ihr Mutterland. Mit Rücksicht auf deren Stellung als Minderheiten in anderen Ländern gingen die Nazis anfangs bei der Behandlung der Sorben für ihre Verhältnisse nahezu gemäßigt vor. Das Sorbische wurde ohne direkte Gewaltanwendung eliminiert. Man gründete deutsche Kindergärten, stellte nur mehr "deutschblütige" Lehrer ein, im Schulunterricht durfte auch während der Pausen nur Deutsch gesprochen werden, Messen waren auf Deutsch zu halten. Härter griff man nur bei den Opinion Leaders durch. 1940 erklärte Himmler, die Sorben sollten als "führerloses Arbeitsvolk unter der strengen und gerechten Leitung des deutschen Volkes berufen sein, an dessen ewigen Kulturtaten und Bauwerken mitzuarbeiten". Damit sie auch tatsächlich führerlos seien, warf man ihre Führer ins KZ oder siedelte sie zwangsweise aus.

Slowenien, das Mutterland der Kärntner Slowenen, wurde erst 1991 unabhängig. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich die in den österreichischen Kronländern Steiermark und Krain lebenden Slowenen abgetrennt und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) angeschlossen. Das alles ging nicht harmlos vor sich, um jeden Meter der neuen Grenzziehung wurde nicht nur diplomatisch, sondern auch militärisch gekämpft. Auch Teile Südkärntens wurden Slowenien zugeschlagen, nachdem man im "Kärntner Abwehrkampf" die SHS-Truppen zurückgedrängt hatte. Erst die Volksabstimmung 1920 brachte das Ergebnis, dass das heutige Südkärnten bei Österreich verbleiben durfte. Und das ist nicht zuletzt den dort lebenden Slowenen zu verdanken, von denen jeder zweite für den Verbleib votierte, was von rechten Politikern heute gerne unter den Tisch gekehrt wird. Doch die historischen Wunden sitzen tief, sie wurden über die Generationen weitergegeben und werden zur Manipulation des Wahlvolks gerne reaktiviert. Noch 2006 sah sich Slowenien genötigt, den von Jörg Haider geäußerten Vorwurf, es würde territoriale Ansprüche auf Unterkärnten geltend machen, zurückzuweisen.

Zeichen für rechte Gesinnung

Die sorbische Bevölkerung Deutschlands hatte nie ein Mutterland. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kurzfristig Bestrebungen, die Lausitz der neu gegründeten Tschechoslowakei und somit einem slawischen Komplex anzuschließen, die Idee wurde aber bald wieder fallengelassen.

Zwei neue Wörter lerne ich im Wendischen Museum in Cottbus/Chósebuz kennen: "Trachtenträgerin" und "Truhentracht". "Von einst elf sorbischen Trachtengruppen sind heute sieben Truhentrachten", ist dort zu lesen, und: "Die letzten ständigen Trachtenträgerinnen starben zwischen 1950 und 1970."

Ich komme aus einem Land, in dem die Tracht Alltag ist. In meiner Kindheit in Salzburg hatten wir Dirndln und Lederhosen, Walkjanker, Lodenmäntel und Jägerleinenjoppen, dazu Trachtenhüte, auf denen wir Federn und Wanderabzeichen sammelten. Als ich nach Wien kam, stellte ich fest, dass dort unsere Alltagskleidung anders codiert war, sie galt als ein Zeichen für rechte Gesinnung. In gewissen Gegenden, etwa im Ausseer Land, haben viele Besucher das Bedürfnis, umgehend etwas Trachtiges anzulegen (auch Wiener und Deutsche, sogar Japaner tun es dort). Es gehört einfach dorthin, man möchte sich den Einheimischen anpassen.

Die Tracht nicht verderben lassen

Weiter im Osten dagegen sieht es – abseits der Oktoberfestzeit, eine Mode, die auch zu uns übergeschwappt ist – nach wie vor seltsam aus, Tracht zu tragen. Der Hautgout des Heimattreuen, den die Nazis der Tracht angehängt haben, weht immer noch herbei, auch wenn man in den alpinen Regionen sagt: "Wir lassen uns von den Nazis die Tracht nicht verderben." Es gab und gibt jedenfalls jede Menge Trachtenträger und -trägerinnen in Österreich, aber kein eigenes Wort dafür. Ein eigenes Wort braucht man wohl erst, wenn das Signifikat selten wird.

Das Wort "Truhentracht" klingt traurig. Die Trachten wandern gewissermaßen in einen Sarg, aus dem sie nur mehr geholt werden, wenn ein besonderes Fest ansteht oder ein Kulturanthropologe vorbeikommt.

Das Spezielle an der Spreewälder Tracht ist natürlich, dass sie wenig alltagstauglich erscheint. Allein die phänomenalen Hauben lassen rätseln, wie man denn auf den Bauernhöfen damit durch die Tür kam und in den teilweise sehr kleinen Räumen (das Freilichtmuseum in Lehde/Ledy gibt einen Eindruck davon) sich bei der Arbeit bewegte. In Teile der Haube wurde festes Papier eingenäht, alles mit bis zu 80 Nadeln festgesteckt. Jede Frau hatte sieben bis acht Trachten für unterschiedliche Anlässe. Im Winter trug man zusätzlich einen sogenannten Watterock, einen dick mit Schaffell wattierten Unterrock. So eine Tracht konnte dann schon zehn Kilo wiegen. Und doch machten sich die Sorbinnen all diese Mühe. Der deutsche Maler Adolf Burger berichtete 1865: "Geht die Spreewälderin zur Arbeit ins Freie, so macht sie eine sorgfältige Toilette, zieht blendend weiße Wäsche und Tücher an und leuchtet förmlich in ihrer Sauberkeit, wodurch sie schon aus der Ferne von einer Deutschen zu unterscheiden ist, die zur Landarbeit ihre schlechtesten Kleider anzieht." Besonders spektakulär war die Trauertracht, für die schneeweiße gestärkte und kompliziert geraffte Damasttücher übergezogen wurden – wie berichtet wird, war es ein geradezu mystischer Anblick, eine Schar solcher fantastischer Gestalten auf den lautlosen Kähnen dahingleiten zu sehen.

Frauen, die Bewahrerinnen

Es kommt nicht selten vor, dass Frauen die Bewahrerinnen der Tradition sind. So konsequent die Spreewälderinnen an ihren Trachten festhielten, so geheimnisumwittert ist das Verschwinden der entsprechenden Männertracht. Der Volkskundler und Maler Willibald von Schulenburg (1847-1934) berichtet noch davon: Die Wenden trugen "lange weiße Leinwandröcke mit blanken Knöpfen, roten Biesen und großen Seitentaschen, rote Westen mit großen blanken Knöpfen, kurze weiße Kniehosen mit roten Nesteln, lange weiße Strümpfe mit roter Verzierung und Schuhe mit blanken Schnallen, durch welche ein Seidenband gezogen war; auf dem Kopf eine Pelzmütze mit grünem oder blauem Sammetdeckel".

Auch von Zipfelmützen berichten manche Quellen. Schon um 1870 wurde die Männertracht abgelegt und geriet in Vergessenheit. Somit hielten die sorbischen Frauen rund hundert Jahre länger an ihren Trachten fest. Heute tragen die ausschließlich männlichen Osterreiter einen schwarzen Gehrock und Zylinder: Das sieht immerhin nach 19. Jahrhundert aus. (Bettina Balaka, Album, 12.2.2017)