Manche Gewerkschaftsfunktionäre haben ein recht seltsames Bild von der Arbeitswelt: Dieses Bild ist geprägt von Großbetrieben, in denen Arbeiter mit dem Pfeifen der Fabrikssirene ihre Arbeit antreten und am Ende der achtstündigen Schicht, wieder zum Pfeifton der Sirene, heimgehen – dafür bekommen sie einen (im Zweifel: zu niedrigen) Grundlohn, der von der Arbeiterklasse mit gewerkschaftlichen Mitteln hart erkämpft werden muss. Hart erkämpft ist auch, dass jeder Handgriff außerhalb dieser fixen Arbeitszeit separat und mit saftigen Zuschlägen entlohnt werden muss.

Das Bild, das die meisten Wirtschaftsvertreter von der Arbeitswelt haben, ist ein nicht weniger realitätsfernes: Demnach sind "Human Resources" dazu da, nach betrieblichen Notwendigkeiten eingesetzt zu werden, wofür die Betroffenen dankbar ihren Lohn entgegenzunehmen haben – und wenn gerade weniger zu tun ist, dann sollen sie gefälligst daheimbleiben und dem Betrieb nicht auf der Tasche liegen.

Beide Bilder haben mit der Realität wenig zu tun, sie werden auch eher an den Schreibtischen in irgendwelchen Kammern gepflegt als in Betrieben. Aber es gehört zum Ritual sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen, diese Bilder immer wieder hervorzuholen, der Öffentlichkeit und dem Verhandlungsgegenüber zu zeigen – um dann doch etwas zu vereinbaren, was der Realität näherkommt. Das öffentliche Aufzeigen der gewerkschaftlichen und der unternehmerischen Sichtweise soll natürlich auch die Politik beeindrucken: Die Gewerkschafter wünschen sich staatlichen Schutz – vor übermäßiger Arbeitsbelastung, vor Gesundheitsgefahren und vor allem davor, was man sonst als "Ausbeutung" verstehen könnte.

Die Wirtschaftsfunktionäre wollen ihrerseits Schutz vor allem, was sie unter "Bürokratie" subsumieren: Das reicht von der betrieblichen Mitbestimmung bis zu den Arbeitnehmerschutzbestimmungen, von denen die Arbeitszeitregelung nur eine ist.

Beide Seiten finden in der Politik Gehör, man weiß ja, wo man Parteifreunde hat. Gleichzeitig haben Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite seit 1945 in 72 Jahren Sozialpartnerschaft die Erfahrung gemacht, dass man den Staat besser nicht allzu intensiv mitreden lässt. Denn das kann für die Unternehmen am Ende noch mehr Bürokratie bedeuten – und für die Arbeitnehmer, dass sie an Spielraum verlieren, die Arbeitswelt durch Kollektivverträge (die ja nicht nur eine Einkommenskomponente haben, sondern auch Arbeitsbedingungen und Freizeit regeln) mitzugestalten.

Beide Seiten wissen auch aus der Praxis in den Betrieben, die eben nicht allesamt Fabriken mit Sirenen und gleichmäßigen Anforderungen sind, dass etliche gesetzliche Regelungen zu starr sind – besonders dort, wo es um die Arbeitszeit geht.

Und jetzt wird gefeilscht, wobei beide Seiten nachgeben werden müssen. Denn für erfolgreiche Unternehmen ist es zunehmend wichtig, dass die Mitarbeiter eben nicht am Ende des – von den Gewerkschaften erstrittenen – Achtstundentages den Bleistift, den Schraubenschlüssel oder die Computermaus fallen lassen, sondern dass sie wenn nötig auch mal zehn, zwölf oder auch mehr Stunden rackern.

Aber das gibt es nicht zum Nulltarif – Zuschläge und, wenn man kreativ sein will, erhöhte Beiträge zur Mitarbeitervorsorge. Überhaupt müssen bessere Sozialleistungen drin sein. (Conrad Seidl, 13.2.2017)