Widerstandsformen sichtbar machen und dabei auch über NS-Täterschaft sprechen: Maria Pohn-Lauggas forscht an der Universität Wien zum gesellschaftlichen Umgang Österreichs mit der NS-Vergangenheit und der Bedeutung des Erinnerns.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Der gesellschaftliche Umgang Österreichs mit der NS-Vergangenheit war lange Zeit vom Opferdiskurs bestimmt. Wie hat er das Erinnern geprägt?

Maria Pohn-Lauggas: Der Opferdiskurs gibt eine Form vor, wie man über die Zeit des Nationalsozialismus sprechen kann – ohne dabei die Täter und Täterinnen zu benennen. Ein Beispiel dafür ist zu sagen: "Als Wehrmachtssoldat habe ich nur meine Pflicht getan." Ich stelle die These auf, dass jede Familie vom Opferdiskurs betroffen ist, weil es ja auch Nationalsozialisten in den Familien gab. Der Opferdiskurs ist aber keine geschlossene Erzählung – er hat sich unter anderem seit den 1980er-Jahren mit der Debatte um Bundespräsident Kurt Waldheim verändert. Heute kann man öffentlich nicht mehr sagen, dass Österreich das erste Opfer gewesen sei, da würde es einen medialen Aufschrei geben. Aber auf der Ebene des Alltags, am Stammtisch oder in der Familie, halten sich Elemente des Opferdiskurses sehr hartnäckig und werden immer wieder aktualisiert. Auch in Internetforen und neuen Medien wirkt er nach wie vor.

STANDARD: Sie forschen zur Bedeutung des Erinnerns für die Nachkommen von Widerstandskämpfern. Wie wirkt sich die Vergangenheit auf die Familienbiografien aus?

Pohn-Lauggas: Wenn Nachkommen von Widerstandskämpferinnen und -kämpfern von ihrer Familiengeschichte erzählen, erleben sie in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, dass sie darüber eigentlich nicht sprechen dürfen. Denn darüber zu sprechen hieße auch über Täterschaft zu sprechen. In meiner Forschung frage ich nach den Formen, wie Familiengeschichten, die an den Widerstand gebunden sind, erinnert werden. Worüber darf man wie sprechen? Denn auch das Schweigen wirkt sich auf die Familien aus.

STANDARD: Welche unmittelbaren Folgen hat dieses gesellschaftliche Schweigen?

Pohn-Lauggas: Das wirkt bis in kleinste Situationen. Etwa wenn in der Schule die Aufgabe gestellt wird, die Großeltern zu ihrer Vergangenheit zu interviewen. Für Nachkommen von Widerständigen ist das eine andere Konfrontation mit der Geschichte als für die Mehrheitsgesellschaft, die am Nationalsozialismus beteiligt war.

STANDARD: Reichen drei Generationen aus, um gesellschaftliche Tabus zu brechen?

Pohn-Lauggas: Solange sich das nationale Gedächtnis nicht verändert, bleibt das Schweigen immer Thema. Bei den Familien, deren intergenerationellen Verlauf ich rekonstruiert habe, zeigt sich, dass dieses Schweigen mittlerweile nicht mehr so manifest ist. Die dritte Generation sagt nicht mehr: "Darüber wurde nicht gesprochen." Das sagte die zweite Generation. Bei den Tätern hingegen konnte die zweite Generation nicht fragen, weil damit eine Anklage an die Eltern verbunden gewesen wäre. Das Fragenstellen beginnt mit der dritten Generation in der 68er-Bewegung.

STANDARD: Viele Betroffene konnten oder wollten nach 1945 nicht über ihre Erfahrungen sprechen. Warum?

Pohn-Lauggas: Überlebende haben oft nicht über ihre KZ-Erfahrungen gesprochen, um die Nachkommenden vor dem Leid zu schützen. Während Täterinnen und Täter geschwiegen haben, um sich zu schützen.

STANDARD: Im Rahmen ihrer Forschung widmen Sie sich auch der Bedeutung der Fotografie in der Weitergabe von Erinnerung. Welche Rolle kommt dem Visuellen zu?

Pohn-Lauggas: Wenn die unmittelbar Betroffenen ihre Erlebnisse nicht mehr mündlich weitergeben können, wird das Visuelle zu einem neuen Ort der Erinnerung. Marianne Hirsch hat dafür den Begriff "Postmemory" entwickelt. Sie sagt dort, wo es Lücken gibt, weil die Geschichte nicht erzählt werden konnte oder durfte, macht sich die nächste Generation auf die Suche, diese mit Fantasien und Imaginärem zu füllen. Über Fotografien als historische Hinterlassenschaften kann ich mich in Bezug zu verstorbenen Familienmitgliedern setzen. Über Bilder können andere Aspekte in den Blick genommen werden.

STANDARD: Wie wirken sich Opferverbände auf die Erinnerungsebene aus?

Pohn-Lauggas: Sogenannte Wir-Gruppen haben Einfluss auf die Deutung der Vergangenheit. Wenn Nachkommen keine kollektiven Gedächtnisse haben, dann sind sie in ihrer individuellen Erinnerung dem nationalen Opferdiskurs sehr stark ausgeliefert. Sie haben Schwierigkeiten, sich dem Widerstand in einer politischen Weise zuzuwenden, ihn etwa als antifaschistisch einzuordnen. Es fällt ihnen schwer, die Verantwortung für den Verlust der Eltern oder Großeltern den Nationalsozialisten zu übergeben. Stattdessen lesen sie deren Tod oft als individuelle Verantwortung und sagen: "Wenn meine Eltern nicht widerständig gehandelt hätten, dann wäre das nicht passiert." Diejenigen hingegen, die über kollektive Gedächtnisse verfügen, sich zum Beispiel in Form von Opferverbänden organisiert haben, kämpfen auch mit Verlust und Trauer, aber sie haben in der Deutung eher die Möglichkeit, den Widerstand als politisch, für ein freies Österreich und für die Zukunft der Kinder zu sehen.

STANDARD: Was wird überhaupt als widerständig gewertet?

Pohn-Lauggas: Es gibt unterschiedliche Formen und Sichtbarkeiten von Widerstand. Ich habe eine Familie interviewt, die ein jüdisches Kind versteckt hatte. Das ist eine völlig unsichtbare Form widerständigen Handelns. Insofern kann man nicht von "dem Widerstand" ausgehen. Wenn von Widerstand die Rede ist, dann gehen wir hauptsächlich von organisierten Formen wie dem bewaffneten Widerstand aus. Mittlerweile sprechen wir auch vom Widerstand der Frauen und von Deserteuren. Und zunehmend wird auch wieder der kommunistische Widerstand in den Blick genommen, der in Österreich in der Zeit des Kalten Krieges gänzlich zum Verschwinden gebracht wurde. Als Soziologin interessiert mich, was gesellschaftlich als widerständig konstruiert wird – sowohl auf einer gesellschaftlichen Ebene, aber auch in den Familien selbst.

STANDARD: Mit welchen Widerstandsformen haben Sie derzeit in Ihrer Forschung zu tun?

Pohn-Lauggas: Aktuell beschäftige ich mich mit Familien aus dem kommunistischen Widerstand, aus dem bürgerlich-monarchistischen Widerstand, mit Deserteursfamilien und einer Familie, die sich nicht zuordnen lässt.

STANDARD: Gibt es in diesen Familien Gemeinsamkeiten in der Erzählung der Lebensgeschichte?

Pohn-Lauggas: Was bei allen vorkommt, ist, dass die eigene Lebensgeschichte immer in Verbindung mit der Familiengeschichte erzählt wird. Biografische Erzählungen können ja auch getrennt sein – unabhängig von der Familie, wie es bei TäterInnenfamilien der Fall ist. Aber bei Nachkommen von WiderstandskämpferInnen werden Lebensentscheidungen in Bezug auf die Familiengeschichte gesehen. Etwa wenn der Sohn sagt: "Mich gibt es nur, weil meine Eltern im Widerstand waren" oder die Enkelin sich fragt: "Hätte ich einen anderen Mann geheiratet, wenn ich einen anderen Großvater gehabt hätte?". Hier gibt es Parallelen zu biografischen Erzählungen von jüdischen Familien, wo in Form von jüdischen Widerstandsgeschichten ja auch Überschneidungen vorkommen.

STANDARD: Welche gesellschaftlichen Bedingungen für das Erinnern an Widerstand wären heute notwendig?

Pohn-Lauggas: Es bräuchte ein offizielles Bemühen, verschiedene Widerstandsformen sichtbar zu machen. Das heißt zum einen, die vorhandenen Wir-Gruppen zu stärken und noch sichtbarer zu machen. Und zum anderen, sich zu bemühen, über Forschungen, Erzählcafés, Generationenforen diese verschiedenen Formen des Widerstands über die Erinnerung der Nachkommen, soweit noch vorhanden, sichtbar zu machen. Daran gekoppelt ist, dass wir weiter über NS-Täterschaft sprechen müssen. Konkret passiert das über die Familien, indem über die jeweiligen Familiengeschichten gesprochen wird, das inkludiert auch zu recherchieren. Es braucht einen aktuellen Bezug zu gegenwärtigen Formen des Widerständigen. Und: einen Dialog darüber, was heute Widerstand bedeutet. (Christine Tragler, 23.2.2017)