Türkischstämmige Mitbürger machen es einem momentan nicht leicht. Da sieht man einigermaßen fassungslos, wie sie einem Despoten zujubeln, weil der seine autokratische Herrschaftsweise auf die Spitze treiben will. Man hört und sieht, wie sie die Nazikeule mitschwingen. Ganz nebenbei kommt man dahinter, dass einige Tausend im vollen Bewusstsein der Unrechtmäßigkeit Doppelstaatsbürger sind, die in ihrer "Heimat" pro Erdogan abstimmen wollen. Kein Wunder also, dass sich konservative Publizisten wie Henryk M. Broder darin bestätigt sehen, deutsch-türkische Erdogan-Fans lebten wohl "auf einem anderen Planeten".

Das Problem ist nur: Enttäuschungsäußerungen dieser Art holen weder Erdogan-Fans von der Palme, noch tragen sie sonst Positives zur Entschärfung der politischen Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und den betreffenden EU-Ländern bei. Vielmehr müsste man sich dringend fragen: Wie konnte es so weit kommen, dass Menschen, die seit Jahrzehnten ihren Lebensmittelpunkt im vereinten Europa haben, sich so sehr für jemanden wie Erdogan erwärmen können?

Ein Teil der Antwort mag sein, dass man das Herkunftsland zumeist in milderem Licht sieht, je länger man nicht in ihm gelebt hat. Und viele denken, Tayyip Erdogan habe "ihrer" stolzen Nation Aufschwung und Wohlstand gebracht (was wohl bald nicht mehr stimmt, wenn er so weitermacht).

Dazu kommt aber auch, dass sich türkische Mitbürger politisch in Europa nicht "zu Hause" fühlen. Seit Jahrzehnten wird etwa in Deutschland und Österreich darüber diskutiert, ob und unter welchen Umständen es ein Ausländerwahlrecht für Personen aus Nicht-EU-Staaten geben soll – mit bis dato kläglichen Ergebnissen. Nicht einmal EU-Bürger dürfen bei österreichischen Landtagswahlen votieren, ein Antrag des Wiener Gemeinderats, EU-Bürger und Drittstaatsangehörige auch auf Gemeindeebene wählen zu lassen, blieb bis dato ungehört.

Die jüngste Initiative von Grünen, SPD und Piraten im nordrhein-westfälischen Landtag zur Einführung des Ausländerwahlrechts auf kommunaler Ebene verheddert sich vorerst im Streit. Die CDU läuft Sturm dagegen, fürchtet sie doch, das sei geradezu eine Einladung an Erdogan- und Putin-Fans, Unterstützerparteien zu gründen.

Das zeigt das Versäumnis der etablierten europäischen Parteien: Sie haben sich nicht ausreichend um (potenzielle) türkische Wähler bemüht. Während es aber in Deutschland immerhin mit Cem Özdemir (Grüne) und Aydan Özoguz (SPD) zwei türkischstämmige Politiker bis an die Spitze ihrer Parteien gebracht haben, ist Österreich diesbezüglich Entwicklungsland. So finden sich in der 405 Namen umfassenden Liste "Meine Abgeordneten" von respekt.net nur vier Politiker mit türkischen Wurzeln.

Besonders die konservativen Parteien wären gefordert: Viele hier lebende Türken denken eher traditionell. Lässt man die unterschiedlichen Glaubensbekenntnisse beiseite, gäbe es genügend Gemeinsamkeiten: Viele Türkinnen und Türken sind Unternehmer, bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Familie, Tradition werden hochgehalten – da hätte doch etwas für CDU, CSU oder auch ÖVP dabei sein können.

Stattdessen hat man ihnen das Gefühl gegeben, Bürger zweiter Klasse zu sein – vor deren Gekränktheit und verletztem Stolz man sich nun fürchten muss. Schlimmer geht es kaum. (Petra Stuiber, 16.3.2017)