Depeche Mode wollen uns zeigen, wo der Hammer, nun ja, hängt: in der gesellschaftlichen Mitte.

Foto: Anton Corbijn

Wien – Kaum eine Band wird in christlichen Onlineforen so intensiv diskutiert wie Depeche Mode. Nach U2 ist die seit auch schon fast 40 Jahren existierende Band aus dem nordöstlichen Speckgürtel Londons von den Texten, aber auch den musikalischen Sündermann- und Gospelklagen her immerhin die zweiterfolgreichste Pop-Attraktion der Welt – wenn es darum geht, zentrale Fragen des christlichen Abendlandes im drei- bis fünfminütigen Songformat zu umkreisen.

Wo es U2 allerdings immer schon lieber um die Phase nach der Reinwaschung der Sünden geht und allerorten zu einfachen, nach österlichem Glockengeläut klingenden Gitarren Hosianna und Halleluja angestimmt werden, befinden sich Depeche Mode noch unbequem eingepfercht im Beichtstuhl. Schmerz und Sünde beklemmen den Brustkorb. Vor der Vergebung dräut die Sühne. Der Lord und Jesus werden zu Hilfe gerufen. Erlösung ist das Reiseziel auf der Suche nach Gott.

DepecheModeVEVO

Da Popmusik den jeweils nachrückenden, frischeren Generationen ungefähr ab der Mitte des 20. Jahrhunderts immer schon als höchst willkommener, weil verheißungsvoller und sexuell aufgeladener Religionsersatz dient, sind Depeche Mode um den heutigen Bandleader Martin Gore und Sänger Dave Gahan mit über 100 Millionen verkauften Tonträgern an der vordersten Front globaler Stadionprediger zu finden.

Zum nagenden Zweifel und Selbstzweifel sowie der Sinnsuche im irdischen Jammertal fügt es sich gut, dass Depeche Mode musikalisch lange Jahre aus dem Vollen schöpfen konnten. Mit scheinbar leichter Hand und schwerem Gemüt entstanden so vier, fünf Handvoll unwiderstehliche Hits (bitte je nach Geschmack einfügen) und wirklich tolle Alben wie Some Great Reward, Music for the Masses, Black Celebration, Violator oder Songs of Faith and Devotion und Ultra.

Im mittlerweile gewohnten Vierjahresabstand erscheint nun nach dem Vorgänger Delta Machine das neue Studioalbum Spirit. Die doch recht bedrohliche, sich über die letzten 20 Jahre ziehende und scheinbar endgültige Hinwendung vom einst stilprägenden Synthiepop zum breitbeinigen Blues- und Boogierock für mittelalte Männer auf Tourenmotorrädern kann speziell mit der aktuellen Midtempo-Single Where's the Revolution nicht ganz abgewendet werden. So könnten seit Jahrzehnten zum Beispiel auch ZZ Top klingen, wenn sie sich noch für Musik interessieren würden.

Bluthochdruckballaden

Abseits des ohnehin nicht mit potenziellen Hits gepflasterten Albums Spirit, das natürlich im Wesentlichen dazu dient, die anstehende Welt- und Greatest-Hits-Tournee namens Gobal Spirit zu rechtfertigen, lassen sich aber vor allem bei den ruhigeren Stücken Schätze heben. Das von Dave Gahan, Tourmusiker Peter Gordeno und dem österreichischen Stammschlagzeuger Christian Eigner geschriebene Cover Me etwa erweist sich als melancholischer, im Refrain weit ausholender Dancetrack mit angezogener Handbremse. Wir hören eine hübsche Ballade für Menschen, die aufgrund hohen Blutdrucks gern nervös mit den Fingern schnippen und vom Schaffen der britischen Band Underworld und ihrem Beitrag zum 1990er-Jahre-Ravefilm-Klassiker Trainspotting träumen. Aber bitte: Jogging statt Drogen!

Produzieren lassen haben sich Martin Gore, Dave Gahan und Keyboarder Andrew Fletcher dieses Mal von James Ford vom britischen Elektronikduo Simian Mobile Disco. Ford kann in der Nachfolge diverser Vorgänger am Mischpult wenig Neues zur Hausmarke beitragen. Der vor allem auch soundarchitektonische Einfluss Depeche Modes auf die elektronische Popmusik der letzten Jahrzehnte ist schlichtweg zu übermächtig, die Erwartungshaltungen des Managements wie des Publikums zu groß, um diese enttäuschen zu können.

Jeder großen Popmusik muss immer auch eine gehörige Portion Naivität innewohnen. Davon künden die dieses Mal auch "politisch" zur Weltlage stellungnehmenden Vorschlaghammertexte, etwa Going Backwards:

"We can track in all the satellites / Seeing all in plain sight / Watch men die in real time / But we have nothing inside / We feel nothing inside. We are not there yet / We have lost our soul / The course has been set / We're digging our own hole."

Das tut ein wenig weh. Aber bitte. Über die problematische Wir-Form in liturgisch verwendeten Poptexten ein anderes Mal. (Christian Schachinger, 17.3.2017)