Martin Schulz, der Kanzlerkandidat der SPD, ist mit einem heutzutage gängigen Vorwurf konfrontiert. Sein Erfolg gründe auf Populismus. Schulz-Kritiker untermauern ihre Argumentation mit dem neuen Narrativ vom "Postfaktischen". So basierten Schulz' partielle Abkehr von der Agenda 2010 und seine Rhetorik von der Spaltung der Gesellschaft auf einer schnöden Anpassung an Sichtweisen des Wählermarktes. Es handele sich um "gefühlte Wahrheiten".

In der Tat bedient Schulz Gefühle, wenn er das Hohelied der sozialen Gerechtigkeit singt und mit seiner Biografie verknüpft: ehemals gefallener Alkoholiker, kein Abitur, Buchhändler und Aufsteiger aus der Kommunalpolitik. Das Ganze wird von Unterstützern mit einer halbironischen Obama-Imitationskampagne und von Schulz selbst mit einer gehörigen Portion Anti-Establishment-Rhetorik verknüpft. Als Präsident des Europaparlaments gehörte er wohl nicht dazu. Man kann das kulturkritisch sehen oder aber argumentieren, dass die Außerachtlassung des Gerechtigkeitsthemas den Populismus erst ermöglicht hat. Beides erklärt die Anziehungskraft des Kandidaten aber nur teilweise. Es gibt auch Faktoren, die die Grundlagen politischen Handelns betreffen.

Ein Paradebeispiel

Schulz ist ein Paradebeispiel dafür, dass es eine demokratische und integrative Ausformung des Phänomens Populismus gibt. Denn dieser Erfolg hat viel mit dem Missverhältnis zu tun, in dem die politischen Handlungsmotive Interesse, Moral und Leidenschaft stehen: Das Interesse bezeichnet die Orientierung am ökonomischen Gewinn. Bei der Moral handelt es sich um das der Aufklärung entstammende Prinzip der Förderung von Gleichberechtigung und Anerkennung auf der Basis universeller Menschenrechte. Die Leidenschaft steht für die triebhaft-irrationale Ausformung von Politik, eben für "gefühlte Wahrheiten", die auf keiner tieferen Auseinandersetzung beruhen, sondern auf individueller Erfahrung und Wahrnehmung.

Albert O. Hirschmann hat in dem Essay Leidenschaften und Interessen (1977) dargelegt, dass das ökonomische Interesse integrativ sein kann, weil es die Leidenschaften zähmt. Schließlich ist der ökonomische Nutzen verhandelbar und kann zum Kompromiss geführt werden. Die politische Leidenschaft hingegen tendiert zur Abwertung des von der eigenen Disposition Abweichenden. Die mit den Schlagworten "Neue Mitte" und "New Labour" verbundenen reformistischen Politiken der Sozialdemokratie gründeten demgegenüber auf einer Sichtweise, die weniger von Einzelinteressen, sondern vielmehr von dem einen Gesamtinteresse an der wirtschaftlichen Prosperität ausgeht.

Der depolitisierende Begriff "Alternativlosigkeit" knüpft hier an. Für politische Leidenschaften in Form subjektiv-emotionaler Wahrnehmungen ist kaum noch Platz, wenn Statistiken über den Gesamtertrag als unumstößliche Maxime angesehen werden. Das Handlungsmotiv Interesse hat in dieser Form zur Untergrabung des öffentlichen politischen Streits geführt. Große Koalitionen und der zunehmende Anklang, den die AfD-Rhetorik von den "Kartellparteien" gefunden hat, sind zwei Seiten derselben Medaille.

Auch in Bezug auf die Moral ist eine Verengung des Diskurs-raums beobachtbar. Angestammte Parteien teilen die Formel "Demokratie versus Populismus". Für diesen Antipopulismus gibt es Gründe. So rekurriert eine Ausformung des Phänomens Populismus zwar auf Meinungsfreiheit, folgt aber antipluralistischen Idealen. Eine Elite-Volk-Dichotomie wird aufgemacht, die beide Seiten – das Volk als nationale Einheit der Betrogenen und die Elite als globale Einheit der Belügenden – monistisch fasst. Das ist der desintegrative Rechtspopulismus. Aber auch Verfechter liberaler Werte exkludieren, da sie sich nicht selten als moralische Klasse der Überlegenen aufspielen und dem Streit a priori aus dem Weg gehen.

Die Verweise auf überbordende Political Correctness können vom Rechtspopulismus deshalb instrumentalisiert werden, weil sie eine reale Grundlage haben. So wendete sich Carolin Emcke in ihrer Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels berechtigt "Gegen den Hass". Sie schloss aber gleichzeitig zu viele abweichende Meinungen aus dem diskutablen Bereich aus. Diese Moral verträgt wenig Widerspruch.

Interesse und Moral in der dargestellten Form untergraben das genuin politische Recht auf politische Leidenschaft, auf "gefühlte Wahrheit" und subjektive Irrationalität. Nur wenn man Leidenschaften auf der repräsentativen Ebene nicht a priori ausschließt, sondern ihnen die Chance gibt, sich im argumentativen Wettstreit zu bewähren, kann ein Moderationsprozess stattfinden, der auf die Gesellschaft zurückwirkt. Totschlagargumente à la "Das ist rechts!" oder "Gefühlte Wahrheit!" verhindern diese Moderation. Gesamtinteresse und genormte Moral können das eigenständige Urteilen, in das auch die parteiischen Leidenschaften einfließen, nicht ersetzen.

Hier kommt wieder Schulz ins Spiel, denn der verkörpert eine gelungene Kombination der Triebfedern politischen Handelns, ohne dabei in antipluralistischen Populismus, eine vermeintliche ökonomische Unparteilichkeit und eine a priori exkludierende Moral abzugleiten. Schulz' Beispiel illustriert, dass einzelne Bestandteile des populistischen Vorgehens zur Demokratie gehören, man sie folglich nicht delegitimieren darf. Dazu gehört natürlich nicht das Volksgefasel des Rechtspopulismus, aber die Leidenschaft.

Der Kandidat bezieht sich offensiv auf "gefühlte Wahrheiten", indem er den Statistiken Einzelbeispiele entgegenhält und der subjektiven Perzeption Geltung verschafft. Er vermittelt das Gefühl der Perspektivenberücksichtigung und kann sich als Anwalt jener inszenieren, die die Verhältnisse in Deutschland für zu ungerecht halten. Schulz verknüpft das Gerechtigkeitsthema dann mit der eigenen Biografie des Strauchelnden, der es dennoch schaffen konnte. Damit kontrastiert er die Tatsache, dass viele Deutschland heute als "Abstiegsgesellschaft" (Oliver Nachtwey) begreifen. Statt der moralischen Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus wählt er ein auch an die Affekte der Anhängerschaft gerichtetes Credo, welches aber keine prinzipielle Nichtanerkennung der Beweggründe populistischen Wählens offenbart. Europa wird als Friedensgemeinschaft verteidigt, weniger als Wirtschaftsraum.

Kurzum: Es ist auch die Repräsentation von Leidenschaft und die Anerkennung subjektiver Wahrnehmung, die Schulz derzeit erfolgreich machen. Das Antielitäre wird bedient, indem man dem politischen Handeln und den Einstellungen des Normalbürgers "ohne Abitur" mehr Respekt entgegenbringt. (Markus Linden, 21.3.2017)